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Sinn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sinn

Die Dinge seien doch leicht zu verstehen, behaupte Gramner, wo liege das Problem.

Thimbleman rieb sich die Augen. Wie Gramner das meine, fragte er.

Der Ausguck zögerte zu antworten, wandte sich zur Lagune und blickte hinaus aufs Wasser. Woher die Wale kommen, fragte er, und ob es wahr sei, daß sie von der Arktis mehrere tausend Meilen nach Süden bis zur Ojo de Liebre geschwommen seien, um die warmen Regionen zu genießen.

Sie bringen ihre Kälber zur Welt, das sei ein empfindlicher Kreislauf des Lebens, sagte Thimbleman und sah zu, wie ein Wal den gigantischen Kopf aus dem Wasser streckte.

Großartig, aber störungsanfällig, sagte der Ausguck, und der Mensch, der sie jage, sagte er, sei der Störenfried. Eldin, sagte er, habe auf ein Kalb geschossen, um in aller Ruhe die Walkuh zu harpunieren, die bei ihrem sterbenden Kind ausharrte.

Der Schaden, den der Mensch anrichte, sei zahlenmäßig minimal, Ausguck, kaum der Rede wert, doch die gewaltige Expansion des Walfangs stehe bevor, die Fangtechniken würden automatisiert, das sei die Zukunft, das sei der Fortschritt, nein, man möchte nicht daran teilnehmen, die Mensch unterwerfe sich der Industrialisierung dieser Abläufe.

Das Maschinenwesen nehme überhand, fragte der Ausguck.

Das seien Gramners Worte, sagte Thimbleman, das Maschinenwesen greife nach der Macht, doch wir werden das kaum noch erleben, fügte er hinzu, die Anfänge, ja, sagte er, die beobachtest du oben in der Stadt bei den Goldgräbern, bei der Union Pacific, beim Ersetzen der Windjammer durch die Dampfschiffahrt.

Das Maschinenwesen verdränge den Menschen, fragte der Ausguck.

Gramners Worte.

Der Sinn gehe verloren, fragte der Ausguck.

Ein schleichender Prozeß, kaum merklich, aber kaltblütig und unaufhaltsam, der die Abläufe beschleunige, sie, wie es auch heißt, rationalisiere, was immer das bedeuten mag, Sprache des Maschinenwesens.

Ob der Sinn verloren gehe, wiederholte der Ausguck.

Das Maschinenwesen kenne keinen Sinn, es erschöpfe sich in Fortschritt und Wachstum, überschreite Grenzen und okkupiere das Dasein wie ein betäubender Nebel, ein Rausch, sein Weg sei sein Ziel, spottete Thimbleman, und der Mensch, überwältigt, lasse das geschehen, er greife nicht ein.

Ob der Sinn verloren gehe, wiederholte der Ausguck.

Gramner verweise auf das frühe einundzwanzigste Jahrhundert, sagte Thimbleman, als sich ein Virus ausbreitete und den Charakter menschlichen Miteinanders grundlegend veränderte, die Menschen mußten sich gegen Infektionen schützen und verordneten sich, Masken zu tragen.

Der Ausguck erschrak. Sie fürchteten sich vor ihren Mitmenschen?

Sie fürchteten sich, sage Gramner, denn jeder Nächste bedrohte die eigene Existenz, Angst griff nach den Menschen, Mißtrauen, verstehst du, alles war unversehens verwandelt, man hielt Mindestabstände ein, gemeinsames Feiern wurde verboten, das Verbot von der Polizei kontrolliert, man begegnete einander nun virtuell über Bildschirme, hielt Konferenzen auf Zoom, die Fußballstadien blieben leer, der Alltag war abgestürzt.

Die Zukunft stelle er sich anders vor, sagte der Ausguck und richtete sich auf.

Dieser Wandel komme einem Anschlag auf den Sinn gleich, du verstehst, Ausguck, von heute auf morgen war der Sinn ausgehöhlt, war zunichte gemacht, war aus der Welt.

Der Sinn, er wäre aber das, was die Dinge zusammenhält?

Er sei der Ursprung und Kern alles Lebendigen, so erkläre es Gramner, mächtiger noch als das fließende Wasser, das den harten Stein auswasche, mächtiger noch als der Sturm, der die tosenden Ozeane dirigiere, ohne den Sinn bräche alles ein, komplett, er bilde das Fundament unseres Vertrauens in die Zusammenhänge, die Dinge, sage Gramner, seien leicht zu verstehen.

Er übertreibt, oder?

Mag sein. Man weiß es nicht. Die Sonne würde zwar noch scheinen und der Mond wie gehabt um die Erde kreisen, aber das menschliche Dasein hätte seinen Sinn verloren. Die Menschen, du siehst es auf der ›Boston‹, müssen sich ins Gesicht schauen. Wo kein Vertrauen herrscht, wird es schwierig – die Zuversicht schwindet, der Erdboden erodiert unter den Füßen, die Rosen blühen nicht mehr.

Stell dir vor, Thimbleman, wir sollten Masken tragen, wie lächerlich wäre das, auf der ›Boston‹ würde nichts gehen, rein gar nichts. Er lachte, stand auf, nahm einige Schritt Anlauf und schlug einen Salto.

Thimbleman ging zum Wasser und schwamm einige Züge.

| WOLF SENFF

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In der neunzehnten und der zwanzigsten Dynastie, ca. 1292 v. Chr. bis ca. 1070 v. Chr., wurde Ägypten von elf Pharaonen mit dem Eigennamen Ramses regiert, Ramses II. regierte ca. von 1279 bis 1213 und Ramses XI. ca. von 1105 bis 1076.

Ramses II.

Ramses XI

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