//

Dämmerung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Episode der Dämmerung

Ob sie je darauf geachtet hätten, wann die Dämmerung anbreche.

Er mache Witze, sagte McAlister.

Die Sonne gehe unter, spottete Pirelli.

Sut lächelte, und Stille trat ein.

Thimbleman reckte die Arme.

Eldin fühlte nach seinem Schultergelenk.

Wann sie endlich wieder die Schaluppen zu Wasser brächten, wollte Harmat wissen.

Harmat wolle dem Grauwal nachsetzen, erklärte Thimbleman, und wolle Blut fließen sehen.

Die Zeit sei reif, sagte Mahorner. Sie saßen mittschiffs, hörten das Klappern aus der Kombüse, den Schlag der Wogen gegen den Rumpf und das gleichmäßige Rauschen der Brandung.

Und, fragte Bildoon, was geschehe, wenn die Dämmerung anbreche.

Schatten breiteten sich über uns, sagte Sut, es werde dunkel, wir verlören die Welt aus den Augen.

Wir verlören die Welt aus den Augen, fragte Bildoon. Er verstand Sut nicht.

Klar, flüsterte Harmat, bei Nacht siehst du nichts, nirgends ein Licht.

Ich sehe die ›Boston‹, widersprach Bildoon streitlustig.

Die ›Boston‹ sei nicht die Welt, herrschte ihn Harmat an, die Stimmung war gereizt.

Ruhe, zischte Thimbleman.

Die Oberfläche löse sich auf, konzedierte Sut, doch sagt, was sei eine Oberfläche, nicht einmal die Brandung spiele sich an der Oberfläche ab, sie werde gefürchtet und sei doch nur der Ausdruck mächtiger tiefer Strömungen, versteht ihr, eine Oberfläche sei ein Konstrukt, ein flüchtigr Gedanke, und deshalb hinfällig, von vornherein hinfällig.

Wer sollte das verstehen, die Männer waren verwirrt. Aber sie hatten keine Lust, Sut ins Wort zu fallen; sie genossen seine tiefe Stimme, sie waren wie gebannt, und wenn er erzählte, blieb es jedesmal ein Erlebnis, man kannte ihn gut in den Spelunken der Barbary Row.

Im Grunde, sagte Sut, existiere eine Oberfläche nicht, nirgendwo, sie sei eine Krücke, eine Erfindung des Menschen mit dem vermessenen Ziel, sich die Welt zu kartieren, sich zurechtzufinden, versteht ihr, nein, versteht ihr nicht.

Eldin ärgerte diese Art, mit den Männern umzugehen, ihm schien ein gutes Stück an Herablassung darin zu stecken, aber was wollte Eldin, war er doch selbst nicht leicht zu übertreffen, was Verachtung seiner Mitmenschen betraf.

Es sei wie im Ozean, erklärte Sut, er kenne keine Oberfläche, er werde von tiefen Strömen bewegt, er hafte an der Erde und biete den Fischen Lebensraum, der Blick des Menschen, sein abstraktes Zergliedern treffe nie und nimmer den Kern des Geschehens.

Und wie das gleich mit der Dämmerung sei, erinnerte Bildoon.

Ihr Schattten lege sich auch über die Ozeane, sagte Sut, stille das umtriebige Geschehen und gleite über den Planeten.

Die sonnenabgewandte Seite liege im Schatten, ergänzte Pirelli.

Ob die Erde womöglich doch eine Scheibe sei, spottete Harmat.

Die Gestirne stiften Verwirrung, sagte Eldin und lächelte.

Es sei die Dämmerung, die die Ankunft des Schattens begleite, sagte Sut, ja sie selbst sei der heraufziehende Schatten und stimme auf die Nacht ein. Du siehst auf die See, die blaß werde, matt, ihr Glanz schwinde dahin, während der Tag auf sein Ende warte, die See scheine sich zur Ruhe zu betten, der Lärm des Tages lege sich, hinter dem Horizont versinke die Sonne, indes die beginnende Nacht das Himmelszelt von Osten her schwärze.

Soweit zur Dämmerung, sagte McAlister abweisend, und er wüßte gern, um was es eigentlich gehe.

Die Dinge seien verwickelt, sagte Harmat.

Sie sei ein Übergang von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag, wer wisse das nicht, eine Geburtshelferin, sagte Sut und warf McAlister einen Blick zu.

Bei Sonnenaufgang setzen wir das Segel auf der Schaluppe, sagte Crockeye.

Der Sonnenaufgang leite den Tag ein, sagte Eldin, ihr Untergang leite ihn aus, die Dauer eines Tages sei unterschiedlich, nach der  Wintersonnenwende nehme sie zu, nach der Sommersonnenwende wieder ab, es dominiere ewiges Gleichmaß.

Da hinein füge sich die Dämmerung, sagte Sut, es herrsche ein  Rhythmus der Natur, auf dem das Lebendige gründet.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Warten auf das Ende – Buchmesse-Schwerpunkt Spanien

Nächster Artikel

Die Griechen schreiben schon wieder Geschichte

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Krieg und Frieden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krieg und Frieden

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, fragte Anne.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß.

Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Der alte Mann, der sein Leben bei sich trug

TITEL-Textfeld | Verena Stegemann: Der alte Mann, der sein Leben bei sich trug Jeder kannte ihn, er war der alte Mann mit der schwarzen Tasche. Er trug sie immer bei sich und sie spekulierten, ob er sein gesamtes Geld darin trüge, seine Kriegstagebücher oder nur ein paar vergilbte Fotos. Manch einer vermutete einfach die gewisse lebensrettende Flasche Schnaps.

Cale-Raunacht

Kurzprosa | Tina Karolina Stauner: Cale-Raunacht Die Zuhörer im Quasimodo noch in Gesprächslaune. Small Talk und Namedropping. Jemand sagt: »Calexico und Simple Minds haben gerade eine neue CD raus.« Eine Frau, die sich ganz an den Bühnenrand drängt, schreit jemandem nach hinten zu: »Von John Cale haben wir doch auch eine CD, oder?«

Kuba und die Revolution

Kurzprosa | Menschen| Lee Lockwood: Castros Kuba. Ein Amerikaner in Kuba und Michael Zeuske: Kleine Geschichte Kubas Der erstmals in Deutschland veröffentlichte dokumentarische Bildband Castros Kuba gibt einen Einblick in die Ziele der Revolution und zeigt Fidel Castro als einen feinsinnigen und demagogisch begnadeten Politiker. Von BETTINA GUTIERREZ