Strahlend in die Zukunft

Roman | Christoph Peters: Dorfroman

Der geplante Bau eines Kernkraftwerkes spaltet die Gesellschaft und zieht tiefe Gräben durch eine konservativ-katholische Dorfgemeinschaft am Niederrhein. Christoph Peters Dorfroman erzählt eine aufwühlende Zeit aus der Perspektive eines heranwachsenden Jugendlichen, der seine erste große Liebe erlebt und dabei zwischen die Fronten gerät. Von INGEBORG JAISER

Dorfroman von Christoph Peters
Der verlorene Sohn kehrt heim, 30 Jahre nach seinem Weggang. Gut 600 Kilometer fährt er westwärts, vom großstädtischen Berlin in die niederrheinische Provinz. Hier ist er aufgewachsen, hier wohnen seine Eltern noch immer, längst über 80 und nahe der Gebrechlichkeit, doch »niemand hat eine Idee, was zu tun ist, wenn es nicht mehr geht«. Einst hat der Vater stolz das Familienanwesen aufgebaut, um seinen Nachkommen eine bessere Zukunft zu ermöglichen als seine eigene »zwischen Pferdepflug, Schweinescheiße und Krieg«.

Doch die dörflichen Strukturen von einst sind längst zerbrochen, der Zusammenhalt und die gesellschaftlichen Wertesysteme erloschen. »Wo früher Ackerland war, ziehen sich jetzt Rasenflächen, künstliche Teiche, Sandkuhlen und Hügel hin […] Sie imitieren eine Landschaft, die es nirgends gibt.« Auf der Terrasse des Elternhauses hört man das Gekreische der Menschen vom nahen Freizeitpark, der unter der perfiden Bezeichnung »Kernwasserwunderland« die üblichen Kirmesattraktionen wie Achterbahn und Kettenkarussell vereint. Und das auf dem Areal des Schnellen Brüters, dessen Bau einst die Republik gespalten und zu radikalen Protesten geführt hat. Letztendlich wurde das Kraftwerk – eine der größten Investitionsruinen Deutschlands – nie in Betrieb genommen

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt

Der Autor Christoph Peters, 1966 in Kalkar geboren, erzählt seinen Dorfroman aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers, der durchaus sein Alter Ego sein könnte. Neben den naheliegenden, hochaktuellen Sujets von Heimat und Herkunft, schwingt hier die Reflektion eines emotional aufgeladenen Stücks Zeitgeschichte mit. Der fiktive Ort Hülkendonck lässt sich unschwer als Hönnepel ausmachen, die Stadt Calcar verbirgt sich kaum unter ihrer veralteten Schreibweise. Und eine Zeile der vorangestellten Widmung legt sich wie eine vage Beschwörung über die 400 Seiten des Romans: »Ungefähr so war es vielleicht.«

Das Geschehen wird aus drei Zeitebenen erzählt: der Grundschulzeit des Ich-Erzählers, seiner rebellischen Protestphase als Pubertierender und der Gegenwart. Klar abgesteckt ist so eine Kindheit in den Siebzigerjahren im ländlich-konservativen Umfeld, zwischen »ungeschriebenen Gesetzen, Nachbarschaftsregeln und katholischen Ritualverpflichtungen« und einem vorsichtigen Argwohn, der bereits die Bewohner der rechten Rheinseite als »die Anderen« bezeichnet.

Mit kindlich naivem, aber wachem Blick versucht sich der Junge die Spielregeln des dörflichen Miteinanders – und daraus resultierend der ganzen Welt – zu erklären. Wenn zwischen Lassie und Ohnsorg-Theater mal wieder Schnee über den Bildschirm rauscht, muss der Vater aufs Dach steigen, um die Antenne neu auszurichten. Zu viel Fernsehen ist eh nicht gut für Kinder, denn Ängste gibt es schon genug: vor Einbrechern, dem Kommunismus, der Baader-Meinhof-Bande oder der Zerrissenheit einer Mischehe.

Protest und Rebellion

Wenn man den Jungen nach seinem Berufswunsch fragt, gibt er »Tierforscher« an und denkt dabei an Heinz Sielmann und Dr. Grzimek. Durch deren Sendungen bereits ökologisch sozialisiert, gerät der Heranwachsende in eine emotionale Zwickmühle, als der Bau eines Kernkraftwerkes vom Typ Schneller Brüter in der unmittelbaren Nähe des Dorfes geplant wird. Einerseits entwickelt sich der fortschrittsgläubige Vater als Vorsitzender des Kirchenvorstands zu einem maßgeblichen Befürworter des Projekts, denn die angrenzenden Ländereien gehören der Kirche und durch den Verkauf würden willkommene Gelder in die Gemeindekasse fließen.

Andererseits hat sich im Melkstall von Bauer Praats eine Protestkommune eingerichtet, ein hippieskes Völkchen in Holzfällerhemden und grauen Anzugwesten vom Amsterdamer Flohmarkt, dem sich der noch etwas linkische Jugendliche vorsichtig nähert, weil er sich seiner genormten Klamotten aus dem örtlichen Jeansladen und dem Rucksack aus dem Quelle-Katalog doch etwas schämt. Ausgerechnet in der sechs Jahre älteren Atomkraftgegnerin Juliane findet er seine erste große Liebe, die – man ahnt es – jedoch nicht glücklich enden wird.

Niedergang der bäuerlichen Welt

Auf welch autobiographischem Fundament dieser Dorfroman ruht, offenbart der Autor Christoph Peters auf seiner Homepage. Die Protestmärsche mit über 10.000 Demonstrationen führten nur 100 Meter von seinem Elternhaus vorbei. An den Konflikten um den Bau des Schnellen Brüters zerbrachen Freundschaften, Familienverbände, Nachbarschaftsbeziehungen.

Dennoch gelingt es Peters, mit Milde und Empathie, doch ohne verklärende Nostalgie, auf das Geschehen zurückzublicken. Dieser Dorfroman schildert den Niedergang der bäuerlichen Welt, aber auch den Zerfall eines bedingungslosen Fortschrittsglaubens, erzählt aus der aufmerksamen, staunenden, zuweilen von Humor getragenen Perspektive eines Heranwachsenden. Eine bewegende Coming-of-Age Geschichte über Heimat, Identität und persönliches Glück, zugleich ein zeithistorischer Rückblick, der gekonnt Politisches mit Privatem vereint.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Christoph Peters: Dorfroman
München: Luchterhand 2020
411 Seiten, 22 Euro
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