Der Serienmörder und das fremde Kind

Sonkyong ist Kriminalpsychologin. Und trotzdem überrascht, als der im Todestrakt des Seoul Detention Center einsitzende Serienmörder Lee Byongdo nur mit ihr sprechen will. Derweil muss sie sich auch zu Hause an eine neue Situation gewöhnen: Nach dem Tod seiner Schwiegereltern bringt ihr Mann, der Arzt Chaesong, seine 10-jährige Tochter Hayong aus erster Ehe in ihrem gemeinsamen Haushalt unter. Und das Mädchen scheint alles andere als pflegeleicht zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN

Der rote Apfel von Mi-Ae SeoMit Äpfeln verbindet der Serienmörder Lee Byongdo schöne Erinnerungen. Von seiner leiblichen Mutter gehasst und misshandelt, hat ihn der Zufall nach seiner Flucht aus dem Elternhaus zu einer Frau und deren Familie geführt, die eine Apfelplantage betreiben und bei  denen er zum ersten Mal im Leben Mitmenschlichkeit und Wärme erfährt.

Kein Wunder also, dass er sich als Mitbringsel zu ihren Gesprächen von der Kriminalpsychologin Sonkyong jeweils einen Apfel wünscht. Er, der sich bisher allen Versuchen, ihn zu Aussagen über seine grausamen Taten zu bewegen, verweigert hat, will sich nämlich allein dieser jungen, in Amerika ausgebildeten Frau öffnen. Und die ahnt, dass der Grund, sich einer Unbekannten rückhaltlos anzuvertrauen, in der Vergangenheit des Täters und ihrer Ähnlichkeit mit einer Frau liegen muss, in der er seine wahre Mutter gesehen hat.

Von Stief- und Rabenmüttern

Mi-Ae Seo, in ihrer Heimat regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden, hat den Thriller Der rote Apfel 2010 veröffentlicht. Der auf seiner jetzt, ein Jahrzehnt später, erscheinenden deutschen Erstausgabe prangende gelbe Aufkleber »Der Sensationsthriller aus Korea« führt also ein bisschen in die Irre.

Passen tut das Buch allerdings in eine Reihe von Romanen südkoreanischer Autoren, welche in letzter Zeit mit ihren Geschichten den deutschen Krimimarkt zu erobern sich anschicken. Insofern scheint es legitim, dass sich jeder gewinnorientierte Verlag umtut nach »seinem« koreanischen Thrillerautor. Und mit der in Seoul lebenden Mi-Ae Seo hat Heyne ja offensichtlich auch einen durchaus lohnenden und für die Zukunft vielversprechenden Griff getan.

Denn die den Hintergrund ihrer Romane gründlich recherchierende Autorin versteht sich darauf, Spannung aufzubauen und den Leser in eine Atmosphäre zu versetzen, in der man schnell ahnt, dass die Dinge, so ruhig, souverän und mit dem einen oder anderen literarischen Querverweis versehen sie erzählt werden, auf eine Katastrophe zulaufen.

Mit einer solchen beginnt im Übrigen auch das Buch. Bei einem Hausbrand in einem Seouler Stadtviertel – ein Feuerteufel lässt die Stadt seit Wochen nicht zur Ruhe kommen – verliert ein altes Ehepaar das Leben. Rechtzeitig gerettet hat sich die zehnjährige Enkelin, die nach der Scheidung ihrer Eltern und dem Suizid der Mutter bei den Großeltern untergekommen war und nun hofft, von ihrem Vater aufgenommen zu werden.

Angst vor einem Kind

Der heißt Chaesong, ist Arzt und in zweiter Ehe verheiratet mit der um ein paar Jahre jüngeren Kriminalpsychologin Sonkyong. Die weiß natürlich um die Vergangenheit ihres Mannes, dessen Probleme mit seiner ersten Frau und die gemeinsame Tochter, die von dieser benutzt wurde, den Mann auch nach der Scheidung weiterhin an sich zu binden. Dass sie freilich einmal als Stiefmutter die Verantwortung für das Mädchen Hayong wird übernehmen müssen, hat Sonkyong nicht geahnt, sieht sich aber, als diese Aufgabe mit dem Auftauchen des Mädchens in ihrem Haus plötzlich auf sie zukommt, der Lage durchaus gewachsen.

Nicht alles klappt im Verhältnis zwischen dem verschlossenen Kind und der durch die gleichzeitigen Gespräche mit dem Serienkiller Lee Byongdo, auf die sie sich etwas blauäugig eingelassen hat, abgelenkten jungen Frau natürlich auf Anhieb. Aber man ist ja lernwillig und bereit, auch einmal zurückzustecken, wenn eine Konfrontation aus dem Ruder zu laufen droht.

Allerdings merkt Sonkyong ziemlich schnell, dass mit der neugewonnenen Tochter etwas nicht stimmt. Wut- und Zerstörungsanfälle, Gefühlskälte, Probleme mit Lehrern und Mitschülern, Aggressionen gegenüber Tieren, vor allem aber die hasserfüllten Reaktionen des Mädchens, wenn die Stiefmutter sich in ihr Leben einmischen will – das alles erinnert sie immer mehr an das, was der Serienmörder Lee Byongdo ihr über das Verhältnis zu seiner ihn unablässig quälenden Mutter erzählt hat. Und langsam schleicht sich die Angst in Sonkyongs Haus ein.

Südkoreas Clarice Starling

Mi-Ae Seo erzählt ihre Geschichte bis zu deren überraschendem Schluss, ohne allzu sehr auf Gewalt zu setzen. Gelegentlich wirkt ihre Hauptfigur ein wenig zu naiv, vor allem wenn man bedenkt, dass man es bei Sonkyong mit einer gut ausgebildeten Kriminalpsychologin zu tun hat, die an der Universität Vorlesungen über Serienmörder hält. Dass diese Frau ständig Ratschläge von einer Kinderpsychologin einholen muss, um ihr Verhalten gegenüber Hayong danach auszurichten, scheint deshalb wenig glaubhaft. Der Spannung freilich, die der Roman bis zur letzten Seite hält, tut das keinen Abbruch. Und dass der Serienmörder Lee Byongdo als heimlicher Berater Songkyongs genauso tätig werden darf, wie das bei dem allenthalben in diesem Roman aufblitzenden Vorbildduo Hannibal Lecter/Clarice Starling gelegentlich der Fall war, stört weniger, als man erwarten durfte.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Mi-Ae Seo: Der rote Apfel
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
München: Wilhelm Heyne 2020
349 Seiten, 12,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Für immer allein?

Nächster Artikel

Alle zwei Stunden höchstens zehn Minuten Pause

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Arsen und Fremdenhass

Roman | Lisa Sandlin: Der Auftrag der Zwillinge

Zweimal schon haben Delpha Wade und Tom Phelan gemeinsam ermittelt. Tom von seiner Detektei »Phelan Investigations« im texanischen Beaumont aus. Delpha, nach 14 Jahren hinter Gittern, als frischgebackene Sekretärin des jungen Ermittlers. Ging es bei ihrem letzten gemeinsamen Fall – nachzulesen in Lisa Sandlins Thriller Family Business (2017, deutsche Übersetzung 2020 im Suhrkamp Verlag) – um zwei Brüder, ist es diesmal ein weibliches Zwillingspaar, das die Detektive anheuert. Die beiden Frauen vermuten, dass jemand sie langsam mit Arsen vergiften will. Und weil eine von ihnen noch ein paar Monate im Gefängnis von Gatesville absitzen muss, ist der Fall doppelt brisant und es drängt die Zeit. Von DIETMAR JACOBSEN

Freibeuter der Lust

Philip Roth: Das sterbende Tier

In seiner verwilderten Novelle ›Das sterbende Tier‹ erzählt Philip Roth mit Schmackes von einer nicht nur sexuellen Obsession. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Wir sind alle geliehen

Roman | Valery Tscheplanowa: Das Pferd im Brunnen

»Ich habe einiges erfunden, einiges ist dazu gekommen aus anderen Familien. So habe ich ein Bild gebaut«, hat kürzlich die 43-jährige, in Kasan (Russland) geborene Valery Tscheplanowa, die mit acht Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland kam in einem Interview erklärt. Ihr eigenes Leben hat sie einmal als Groschenroman bezeichnet. Bisher war Tscheplanowa als Schauspielerin in Erscheinung getreten, hatte in Heiner Müller-Stücken (unter Dimiter Gotscheff) und kürzlich in Salzburg im »Nathan« geglänzt. Von PETER MOHR

Wahlverwandtschaften am Wattenmeer

Roman | Judith Hermann: Daheim

Mit ihrem aktuellen Roman Daheim bekräftigt die Berliner Autorin Judith Hermann – einst euphorisch als Shooting-Star der neuen deutschen Literatur gefeiert – ihren Ruf als große zeitgenössische Erzählerin. Das Beschwören von traumhaften Zwischenwelten und trügerischen Erinnerungen versetzt den Leser in einen beinahe hypnotischen Zustand. Bis die Falle zuschnappt. Von INGEBORG JAISER

Vertrauen, Versuchung und Verrat

Roman | Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

Bernhard Schlinks Werke zeigen dann ihre bekannte Größe, wenn sie um existenzielle Lebensfragen wie Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne kreisen. Auch der neueste Erzählband ›Abschiedsfarben‹ spielt die moralisch-ethischen Kardinalthemen in variantenreichen Spielarten durch, ist jedoch nicht frei von einem larmoyanten Unterton. Von INGEBORG JAISER