Alle zwei Stunden höchstens zehn Minuten Pause

Jugendbuch | Anna Woltz: Haifischzähne

Wie soll man damit umgehen, wenn plötzlich das perfekte Kartenhaus in sich zusammenfällt? Wenn die Sonnenscheinfamilie in der Düsternis versinkt, seit Monaten nur noch betäubt wartet? Auf die letzten medizinischen Ergebnisse. Und was soll man tun, wenn die Mutter einem sagt, dass sie es bereut, ein Kind auf die Welt gebracht zu haben? Atlanta findet ihren ganz eigenen Weg aus der Starre und findet in dem (vermeintlich) verschmähten Finley einen richtig guten neuen Freund. SUSANNE MARSCHALL ist begeistert

Haifischzähne»Was ich heute tun muss, das geht nicht zu zweit. Vielleicht kann ich es nicht mal allein.« Sie radelt schnell weiter, hoch auf den Deich, dreht sich nicht nach dem Jungen um: Diesem Blödmann, der grundlos gebremst hat, dass sie mit Karacho in ihn reingerauscht ist. All ihre Sachen aus der Fahrradkiste geflogen sind und sie die Straße geknutscht hat: Ihr Ellbogen ist ordentlich aufgeschrammt, blutet, tut weh. »Wenn man an Schmerzen denkt, tut es sofort extra weh. Genau darum bin ich hier.« Aber sie ist keine Heulsuse, braucht niemandem leidzutun, erst recht nicht diesem Jungen. Mitleid bekommt sie nämlich schon im Überfluss: von der ganzen Schule, allen Verwandten, den Nachbarn, ihrem Fußballteam. Aber er besteht darauf, sie zu verarzten und zaubert ein Pflaster aus dem Täschchen unter seinem Sattel hervor.

Letzte Nacht hat sie einen Plan gemacht: Alle zwei Stunden darf sie höchstens zehn Minuten Pause machen, sonst schafft sie es nicht. Sie muss sich sputen, die verlorene Zeit einholen. Sie rast auf dem Deich entlang, kann endlich atmen: »Sonst wäre es ja genau wie zu Hause. Da hocken Papa und Mama und warten. Was immer sie auch tun, so feste sie auch staubsaugen oder Gemüse schnippeln oder auf die Tastatur einhämmern, eigentlich halten sie nur den Atem an und warten.« Und plötzlich ist dieser nervige Junge wieder da, streckt ihr angeekelt einen Ast entgegen, an dem ihre »Nachtzahnspange« baumelt – hat sie wohl beim Crash verloren. »Eigentlich ist das völliger Unsinn, weil ich diese Nacht ja überhaupt nicht schlafen werde. Aber heute Morgen, beim Packen, dachte ich: Warum nicht. Und was immer danach passiert – morgen, später … Dann habe ich auf jeden Fall gerade Zähne.«

Er lässt sich nicht abschütteln, plappert drauf los. Erzählt, dass er Finley heißt und 33 Finley-Jahre alt ist: »Wie Hundejahre, aber eben für mich gerechnet.« Und erwartet eine Antwort. Widerwillig sagt sie ihren Namen: »Atlanta? Echt? So heißt niemand!« Ihre Eltern wollten über den Atlantischen Ozean von Europa nach Amerika segeln: »Drei Monate auf dem Meer, das war ihr Plan. Aber bevor es losging, bekamen sie mich. Und dann war ich eben der Plan.« Finley kann‘s nicht glauben, findet Eltern sowieso blöd: »Deine auch, so viel steht fest. Wer entscheidet sich denn bloß für ein Baby, wenn er einen Ozean kriegen kann?« Dann bohrt er auch noch in ihrer frischen Wunde herum: »Überall sehe ich diese Segelfamilien. Lauter lachende Väter mit lachenden Müttern und glänzenden Booten ohne einen einzigen Kratzer.« Und Atlanta »mit ihren schiefen Zähnen« zwischendrin. Das tut ihr so richtig weh, weil es so wahr ist, denkt sie: »Zu hundert Prozent. Ein lachender Vater mit einer lachenden Mutter und einem Mädchen, das dachte, es seien immer Ferien. Bis plötzlich keine Ferien mehr waren.«

Schon nach den ersten Zeilen ist es um einen geschehen – die »Haifischzähne« haben zugebissen, lassen nicht mehr los: Anna Woltz ist eine brillante Erzählerin, die mit wenigen Worten einen unwiderstehlichen Sog zaubern kann und den Leser mitten ins Geschehen katapultiert. Ihre liebevoll gezeichneten Teenie-Protagonisten strahlen von Anfang an eine quirliglebhafte Präsenz aus, dass man ihnen ganz nah kommt – ihren Gedanken, Gefühlen, ihrer Geschichte. Die Woltz aber nur häppchenweise oder ganz vage preisgibt, in einer bildermalenden Sprache mit zarten Untertönen und humorvollen Situationen, bis sich die Puzzleteilchen zu einem großen Ganzen zusammensetzen: Finley ist abgehauen, weil seine Mutter ihm im Streit gesagt hat, dass sie bereut, ihn bekommen zu haben, er stiehlt dann mehr aus Verletztheit als aus Rache ihren Haifischzähne-Glücksbringer. Atlanta, die Ich-Erzählerin, ist eigentlich weich und sensibel, versteckt unter der Ruppigkeit ihre schreckliche Angst, ihre Mutter an den Krebs zu verlieren.

Für ihn ist das Ganze nur ein spielerisches Abenteuer, deshalb hat er auch im Gegensatz zu Atlanta weder Proviant noch Klamotten noch einen Schlafsack dabei. Finley hat auch kein Ziel, nur weg, sie weiß ganz genau, was sie macht. Bis endlich auch er kapiert, warum Atlanta um das Ijsselmeer radeln muss, 360 Kilometer nonstop an einem Tag: »Darum wolltest du weiterfahren, obwohl du nicht mehr konntest? Weil du gehofft hast, dass deine Mutter wieder gesund wird, wenn du …« Beide haben etwas verstanden, über sich, den anderen, das Leben, sind ein bisschen reifer geworden. Und Atlanta, die Finley am Anfang unbedingt loswerden wollte, will absolut nicht mehr ohne den neuen Freund sein: Schließlich haben sie es geschafft – und das ging nur zu zweit.

| SUSANNE MARSCHALL

Titelangaben
Anna Woltz: Haifischzähne
(»Haaientanden«, 2019) übersetzt von Andrea Kluitmann
Mit Vignetten von Alexandra Heim
Hamburg: Carlsen Verlag 2020
96 Seiten, 10 Euro
Jugendbuch ab 10 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Serienmörder und das fremde Kind

Nächster Artikel

Musikalisches Potpourri

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Worte oder Wörter?

Jugendbuch | Dirk Pope: Still!

Nichts mehr im rechten Winkel. Wenn sich Eltern trennen, leiden auch die Kinder. Und wie sie das verarbeiten, ist sehr unterschiedlich. Mariella zum Beispiel redet nicht mehr. Und das verursacht Probleme, für sie in der Schule, für ihre Mutter, für die Lehrer. Aber so richtig Verständnis hat dafür fast niemand. Außer Stan, der auch nicht redet. Von GEORG PATZER

Eine zu große Bürde

Jugendbuch | Sabine Raml: Heldentage Knapp sechzehn zu sein, ist für viele Teenager alles andere als leicht, auch ohne eine Alkoholikerin als Mutter und keinen Vater zu haben und an solcher Angst vor Berührung zu leiden, dass die erste große Liebe daran scheitert. All das bürdet Sabine Raml in ihrem Debütroman ihrer Heldin auf. Aber auch die Geschichte selbst erweist sich am Ende als eine etwas zu große Bürde für die Autorin. Von MAGALI HEISSLER

Mädchengeschichten

Jugendbuch | M.Hof,I.Kuijpers: Julia / M.Holzinger: Funkensommer Zwei Taschenausgaben bereits erschienener Mädchenromane locken in diesem Frühjahr junge Leserinnen. Ein bisschen Probleme, ein bisschen (Liebes)Konflikt erwartet sie, eher ernsthaft angegangen in der fiktionalisierten Autobiographie einer jungen Balletttänzerin, ›Julia‹ von Marjolijn Hof, rundum rosig romanhaft in Michaela Holzingers Bauernhof-Roman ›Funkensommer‹. Von MAGALI HEISSLER

Der Traum von der Golden Gate Bridge

Jugendbuch | Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty Die Kulturrevolution in China endetete offiziell im Jahr 1969. Die Säuberungsaktionen gegen Andersdenkende, der Tod von Hunderttausenden, physische und psychische Misshandlungen währten aber bis zum Tod Maos. Was das tatsächlich für eine Familie bedeutet, erfährt man aus der Sicht der neunjährigen Ling. Von ANDREA WANNER

Am Abgrund – und darüber hinaus

Jugendbuch | Kayla Ancrum: Wicker King Wie weit kann Freundschaft gehen? Wie weit darf Freundschaft gehen? Und wann muss man erkennen, dass man aussteigen muss? Von ANDREA WANNER