Einmal um die ganze Welt

Kinderbuch | Amy Novesky: Das Mädchen auf dem Motorrad

Manchmal fällt sie hin. Manchmal macht das Spaß. Manchmal nicht. Aber sie steht immer wieder auf. Amy Novesky erzählt von einem Mädchen, das auf ihrem Motorrad um die ganze Welt fährt, durch Kanada, Indien, Afghanistan und Persien. Die sich einfach aufmacht und ihren ganz eigenen Traum verwirklicht, ganz allein. Eine Geschichte, die Mut macht, findet GEORG PATZER

Das Mädchen auf dem Motorrad - 750Einmal um die ganze Welt. Allein. Einfach weg. Allen Mut zusammennehmen und raus aus dem Gewohnten, dem Vertrauten, der Sicherheit. Sich ins Abenteuer stürzen, Neues entdecken …

Das Mädchen ist so kühn, setzt sich auf ein Motorrad und fährt los. Hat alles dabei, was sie braucht: ein scharfes Messer, ein schönes, langes, weißes Kleid. Werkzeug, Schlafsack, Pfanne, Kaffeebecher, Löffel und Gabel … »Pflaster und Klebeband für den Fall, dass sie hinfällt, denn das wird sie.« Zwei Stimmen hört sie. Die eine sagt: »Es ist zu gefährlich, die Welt ganz allein zu bereisen. Du wirst deine Katze vermissen, deine Kleidung, Mozart.« Die andere: »Sei still, hör auf die Straße.« Und das macht sie. »Sie kreuzt vom Étoile zur Champs-Élysées. Sie umrundet den Arc de Triomphe. Sie winkt dem Eiffelturm zum Abschied.« Dann fährt sie nach Westen.

Über den Ozean fliegt sie – geht nicht anders. Und schickt ein Telegramm nach Hause: »Ich lebe.« Fährt tagelang nach Westen und kommt durch Orte wie Maniwaki, Michipicoten, Saskatoon. Parkt unter Bäumen auf Campingplätzen, wäscht sich in Tankstellenwaschbecken, »Fremde bringen ihr Kaffee. Manche Leute lächeln. Andere starren. Ein Mädchen auf einem Motorrad ist eine große Sache.«

Ein Sehnsucht weckendes Bilderbuch hat die kalifornische, aus Paris stammende Autorin Amy Novesky geschrieben: Irgendwann sah sie ein Foto im New York Times Magazine, das eine junge Frau auf einem Motorrad zeigte, die als erste Frau damit die Welt umrundet hat. Sie beginnt zu recherchieren und lernt sie schließlich kennen. 1972 fährt Anne-France Dautheville bei der Motorradtour von Paris nach Isfahahan in Persien mit, als einzige Frau unter über einhundert Fahrern. Ein Jahr später macht sie sich dann in die andere Richtung auf, ganz allein.

Das Bilderbuch erzählt von ihrem Trip, in einer ungekünstelten Sprache und mit einfachen, meist comicartigen Strichzeichnungen oder bunten, in ganz unterschiedlichen Techniken gemalten Bildern., manche sehen aus wie Holzschnitte, andere wie Drucke. Sie beschreibt, wie man in Kanada Feuer macht: dass das Holz liegen muss wie Speichen eines Rads, dass die Flammen genug Luft, aber auch nicht zu viel haben. Streut poetische Beschreibungen ein: »Der Morgen riecht nach feuchter Erde, Gras und Wildblumen. Die Luft ist voller Geheimnisse, dem Duft von Moos und Erdbeeren.« Beschreibt in Wort und Bild, wie die Landschaft immer einsamer wird, es nur noch Bäume, Berge und die Straße gibt. Und das Mädchen.

Manchmal sind die Bilder so düster dunkelgrün, dass man kaum etwas erkennen kann, nur schemenhaft hohe Nadelbäume, den prasselnden Regen und ganz klein das Mädchen im Zelt: »Sie spielt Karten und schreibt, um sich die Zeit zu vertreiben.« Sie sind in einem verzauberten Lila und Grün und leuchten sternenglitzrig, als sie sich in einem warmen, spiegelglänzenden Teich treiben lässt, über ihr die Aurora Borealis: »Ein Wirbel bunter Lichter verbindet das Mädchen und den Himmel. Sie schließt ihre Augen. Sie fliegt.« Viele dieser Bilder haben einen ganz eigenen Zauber, indem es die Welt in feenhafte, zartschleierige Farben taucht, ohne dass es kitschig wird.

Sie fährt nach Alaska, dann von Anchorage nach Tokyo und über den Indischen Ozean nach Bombay. Wo es voll ist: Lastwagen, Busse, Rikschas, Autos … und: Elefanten. Hier werden die Farben heller, ein ganzes Feld voller rubinroter Pflanzen strahlt aus dem Buch, Frauen in Saris mit Körben auf dem Kopf schreiten hindurch. Kleine Mädchen malen ihr mit Henna Zeichnungen auf die Hände und bewachen stolz das Motorrad. In Kabul ist alles rosenfarben, in Kandahar riechen die Blumen nach Honig. »Auf dem Markt, Gerüche von Fleisch, Kardamom, Zimt, Benzin.«

Natürlich muss das Motorrad auch ab und zu repariert werden, oder ein Reifen platzt – oft helfen ihr die Menschen umsonst, und sie bezahlt mit gemalten Herzen. Manchmal fällt sie auch tatsächlich hin: »Manchmal macht das Spaß. Manchmal nicht. Aber sie steht immer wieder auf.«

Mit sparsamen Beschreibungen gelingt es Amy Novesky und Julie Morstad, die wundervolle Atmosphäre einzufangen, in der das Mädchen lebt, und die Menschen zu charakterisieren, mit denen sie sich für eine kurze Zeit anfreundet. Die Neugier und die Offenheit, denen sie begegnet, mit denen sie die Welt sieht. Ja, so sollte es sein, denkt sich der Leser. Und: Das möchte ich auch mal tun. Anne-France hat es einfach getan, 1973. Eine kleine Flucht bis zu den riesigen Buddhas in Bamiyan, die in perlenfarbenen Klippen gehauen wurden, sechzehn Jahrhunderte alt. Wo sie eine große Stille erlebt, hoch oben, ganz allein. »Früh im nächsten Jahrhundert werden diese Buddhas verschwunden sein«, schreibt Novesky. Die Taliban haben sie 2001 zerstört. Auch das wird in dem Buch nicht verschwiegen, und wir wissen, dass sich die Welt seither sehr geändert hat, dass solch eine Fahrt sicher anders aussehen würde, als Mädchen allein um die Welt.

Und dennoch ist es eine schöne, herzerwärmende Aufforderung, nicht im alltäglichen Trott zu bleiben. »Kommt ins Offene!«, möchte man mit Hölderlin rufen.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Amy Novesky: Das Mädchen auf dem Motorrad
(Girl on a Motorcycle, 2020)
Illustriert von Julie Morstad
Zuckersüß Verlag 2020
54 Seiten, 24.90 Euro
Kinderbuch ab 5 Jahren
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