Kinderbuch | T. Engelhardt, M. Osberghaus: Im Gefängnis
Heikle Themen für Kinder aufzugreifen ist ein Unterfangen voller Risiken. Dies um so mehr, wenn Kinder vom entsprechenden Thema persönlich betroffen sind. Thomas Engelhardt und Monika Osberghaus haben den Schritt gewagt, in vollem Bewusstsein des Risikos. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, findet MAGALI HEIẞLER
Robert hat eine Tankstelle überfallen. Er wurde gefasst, angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Robert ist ein Verbrecher. Allerdings ist er auch der Vater der achtjährigen Sina.
Der Gefängnisaufenthalt bedeutet Trennung von der Familie. Für alle ist es ein Aufbruch in ein unbekanntes Land. Sie müssen nicht nur mit unvertrauten Gegebenheiten fertig werden, sondern auch mit den emotionalen Belastungen, die die Veränderungen des Alltags mit sich bringen. Sina leidet, sie reagiert mit Zorn, Trotz, ist aber auch voll Neugier und offen für Erfahrungen. Leicht wird es für niemanden aus der Familie, nicht einmal für Kater Fritz.
Komplex, kompetent, offenherzig
›Im Gefängnis‹ ist gleichermaßen Sachbuch wie Erzählung. Es ist ein Aufklärungsbuch im besten Sinn. Der Ablauf der Geschehnisse, das Gefängnisgebäude und der Gefängnisalltag werden systematisch vorgestellt und erklärt. Zum einen ist da Roberts Tat, die nicht verklärt wird. Der Überfall wird klar als Verbrechen definiert. Gründe für Roberts Vorgehen werden angeführt, dienen aber niemals als Entschuldigung. Ebenso legen Engelhardt und Osberghaus Wert darauf, dass die Folgen der Tat für das Opfer zur Sprache kommen. Folgen hat die Tat ebenfalls für Roberts Familie und schließlich für ihn. Ein weiterer wichtiger Punkt, der nicht übergangen wird, ist, wozu die Strafe dient und was vom Bestraften erwartet wird.
Schon in der Einführung wird also ein Geflecht gesponnen und ein Gesamtzusammenhang hergestellt. Kein Einzelpunkt wird stärker bewertet als die anderen, alle haben ihren Platz in diesem Wechselspiel von Gesetzesverstoß, Sanktion, Läuterung und existenzieller Veränderung. Es wird nicht gewertet, keine Sympathien verteilt. Das Mitleiden bleibt dem jungen Publikum überlassen, zugleich wird an dessen Verständnisvermögen appelliert und auf wesentliche Zusammenhänge hingewiesen.
Ein Raubüberfall ist kein Abenteuer, wer gegen das Gesetz verstößt, schädigt andere und auch sich. Das sind große Themen für ein Kinderbuch. Genauso groß ist die Erwartung, dass Robert die Verantwortung übernimmt und Einsicht zeigt. Derartiges so reibungslos, klar, offenherzig und eindeutig zur Sprache zu bringen, ohne sentimental zu werden, ohne Schönfärberei, Salbaderei und öliges Moralisieren, ist eine Leistung besonderer Güte und macht das kleine Buch auch zu etwas Besonderem.
Klarheit herrscht gleichfalls in der Darbietung der beeindruckend zahlreichen Fakten über Gefängnisse und ihre Organisation. Vom angestellten Personal bis zum Speisezettel – ernährungswissenschaftlich erschütternd -, wird kaum etwas ausgelassen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Dingen, die auch Kinder kennen. Was darf man mitnehmen, welche Kleidung trägt man, was macht man den ganzen Tag? Wie gestaltet sich ein Besuch? Darf man telefonieren, Briefe schreiben oder darf man niemanden sehen?
Die Zeichnungen von Susann Hesselbarth illustrieren alles bis ins feinste Detail. Es gibt sogar eine Draufsicht auf einen Gefängniskomplex und einen schematischen Plan einer ganzen Etage. Dass das niedlicher aussieht als in der Realität, versteht sich. Die klaren Linien, der einfache Strich und die trotz Buntheit zurückgenommene Leuchtkraft der Farben weisen aber darauf hin, dass es im Gefängnis eben nicht lustig zugeht.
Im Text werden eine große Zahl neuer Ausdrücke, Berufsbezeichnungen und Fachausdrücke genannt. Die fremde Welt hat eine eigene Sprache, eine sachliche und einen Jargon. Verzeichnisse gibt’s im Anhang. Eine Zusammenstellung hilfreicher Adressen für Betroffene auch.
Und die Geschichte?
Die Geschichte erzählt Sina. Ihre Auseinandersetzung mit den Taten ihres Vaters und den Folgen erlebt man mit, unverblümt und schmerzlich. Das Fehlen von Papa im Alltag, der wachsende Druck auf Mama, die Peinlichkeit und der Scham, wenn es darum geht, was man in der Schule oder der besten Freundin erzählt. Natürlich darf man ihre Briefe an Papa lesen sowie manche Antwort von Robert. Das macht die Geschichte sehr innig, da die beiden sich sehr lieb haben. Vor Kitsch braucht man sich auch hier nicht zu fürchten, der Schwerpunkt liegt auf Sinas Gefühlsleben. Sie hält mit nichts hinter dem Berg, wenn sie wütend ist, macht sie das deutlich. Deutlich wird vor allem, wie schwer Kinder daran zu tragen haben, wenn ein Elternteil eine Freiheitsstrafe ableisten muss. Ihnen wird wirklich viel aufgebürdet, das wird zu leicht übersehen. Das Buch klärt nicht nur über Unbekanntes auf, es ist auch eine Hilfestellung für Betroffene.
Der Ton ist kindgerecht, aber nie kindisch. Es wird nicht herumgealbert. Die Lektüre fordert, eben weil das Thema ein forderndes ist. Die Entscheidung, in Sinas Briefen Rechtschreibfehler einzubauen, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie ernsthaft sich Osberghaus und Engelhardt mit dem harten Thema auseinandergesetzt haben. Ein wenig zu ihren Recherchen und den Hintergründen erfährt man am Ende des Buchs.
Richtig lebendig wird Sina wiederum durch die Illustrationen. Ihre jeweilige Stimmung spiegelt sich in Körperhaltung und Mienenspiel. Ähnliches gilt für ihren Vater, der, obwohl der Verursacher, gegenüber Sina etwas zurückgenommen erscheint.
Die Geschichte geht gut aus, warum auch nicht. Zuweilen gehen solche Geschichten gut aus. Es wird aber klar gemacht, dass das kein fauler Trost ist. Engelhardt und Osberghaus bleiben immer realistisch. Sie haben jedoch ein feines Gespür dafür, wieviel sie einem jungen Publikum zumuten können. So, wie sie ihre Geschichte präsentieren, mit ihrer Illustratorin als Dritte im Bund, setzen sie Standards für die Behandlung dieses Themas, das immer noch fast ein Tabuthema ist.
Titelangaben
Thomas Engelhardt, Monika Osberghaus: Im Gefängnis
Ein Kinderbuch über das Leben hinter Gittern
Mit Illustr. von Susann Hesselbarth
Leipzig: Klett Kinderbuch 2018
92 Seiten, 14 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
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