Kinderbuch | Matisse, Delaunay und die Farben
Kunst für Kinder – da tun sich viele schwer und heben schnell den pädagogischen Zeigefinger. Dass es auch anders geht, sieht man an schönen Büchern aus dem Museum of Modern Art, die so farbenfroh und leicht sind wie die Kunst, von der sie erzählen, findet GEORG PATZER
Das kommt dabei raus, wenn einer spielt. Einfach so aus Neugier: »Eines Tages schnitt der Künstler Henri Matisse einen Vogel aus einem weißen Blatt Papier.« Und weil er ihm gefiel, klebte er ihn an die Wand, damit er einen Fleck verdeckt. Aber dann sah der Vogel so einsam aus. Also schnitt Matisse noch mehr Formen aus und klebte sie an die Wand – jetzt sah es schon fast aus wie ein abstraktes Gemälde auf dem roten Hintergrund.
Dann erinnerten diese seltsamen Gebilde ihn an eine Reise nach Tahiti, vor vielen Jahren: »Die Scherenschnitte sahen aus wie die Vögel, die Fischer und die Algen, die er auf der Insel gesehen hatte.« Und so schnitt und schnitt er weiter, es machte ihm immer mehr Spaß, und die Wände füllten sich immer mehr mit Pflanzen und Vögeln. Und weil ihm das Weiß zu weiß war, klebte er sie auf Blätter, die er azurblau und marineblau bemalt hatte. Zinnoberrot kam dazu, zitronengelb, violett – jetzt schnitt er seine Formen aus den bunten Papieren: »ein pinkfarbenes Baumblatt vor einen orangefarbenen Hintergrund und ein grünes vor einen schwarzen.« Probierte aus, wie die Kontraste wirken, wie die Harmonien. Und dann merkte er, dass auch die »Reste« Formen waren, er hob sie auf und klebte sie auch noch dazu. »Von wegen Reste!« Und dann wurden die Bilder immer größer und größer, bis er mitten in einem papierbunten Garten saß.
Ein sehr lebendiges und schönes Bilderbuch hat Matisse da mit seinem neugierigen Spiel inspiriert, ein Bilderbuch, das genau diese Geschichte erzählt: In seinen späten Jahren experimentierte er mit Drucken und Scherenschnitten, versuchte noch einmal etwas ganz Neues. Schuf aus intensiven Farben, schwingender Bewegung und mit einem leichten Humor Bienenschwärme, Schwalben, Blumen und Frauenkörper, die leuchten und tanzen. Angefangen hat er damit, weil er alt und krank war, oft im Rollstuhl saß und mit einer großen Leinwand nicht mehr so richtig umgehen konnte. Aber das Schöne ist, dass er keine düsteren Bilder schuf, sondern fröhliche, beschwingte, leichte.
Das Bilderbuch von Samantha Friedman, Assistenzkuratorin am Museum of Modern Art in New York, verfolgt in verkürzter Form, aber sehr stringent Matisses Weg: Von der ersten, ganz spielerischen Entdeckung der neuen Kunst bis zu den großen Bildern, die alle Wände bedeckten und nicht einmal die Türen freiließen – wobei ihm seine Assistentinnen halfen. Einfach und ebenso farbenfroh sind die Illustrationen von Cristina Amodeo, die sich an den Formen von Matisse orientieren, die ebenso flächig und bunt sind, ebenso lebendig luftig tanzen, als würden sie aus dem Buch wachsen. Früchte, Palmblätter, Katzen, eine Frau an einem Tisch, Kaffeekannen und Tassen – die ganze Welt fängt an, sich zu bewegen und zu tanzen. Immer wieder sind auch Originalwerke von Matisse zu sehen. Und manche Seiten kann man aufklappen, sodass sie doppelt so breit werden und doppelt so schön wirken. Ein schöner Augenschmaus, dieses Buch, nicht nur für Kinder.
Sonia Delaunay
Nicht ganz so gelungen ist das andere Buch aus der ›MoMa-Reihe‹ des Diogenes Verlag: ›Sonia Delaunay und ihre Farben‹. Statt eines glaubhaften roten Fadens, der die experimentelle und farbenfrohe Kunst von Sonia Delaunay erzählt und erklärt, erfindet Cara Manes, auch sie Assistenzkuratorin am MoMA, eine phantastische Geschichte, die mit einer Decke anfängt: Die ihr Sohn Charles eines Tages findet, eine Decke, die Sonia für ihn bei seiner Geburt gefertigt hat: »Seit ich diese Decke für dich gemacht habe, bedeuten Farben etwas ganz anderes für mich«, sagte Sonia. »Wenn ich ihnen zuhöre, weiß ich, was ich als Nächstes entwerfen soll.« Natürlich will Charles wissen, was die Farben sagen. Und Sonia nimmt seine Hand und sagt: »Komm mit!« Als nächstes Bild folgt Delaunays psychedelisch anmutendes Gemälde ›Elektrische Prismen‹ (1914) und danach befinden wir uns auf einer Reise durch die Welt in einem fliegenden Auto. Und jetzt fliegen die beiden einige Stationen ab, die auf Delaunays Bildern zu sehen sind: der Bal Bullier, »ein Tanzsaal in Paris, wo dein Papa und ich gerne Tango tanzten«, einen portugiesischen Markt, ein Stoffgeschäft in Amsterdam.
Wie auch im Matisse-Band sind die Illustrationen von Fatinha Ramos von den Originalbildern inspiriert, aber leider ohne deren Intensität, ihr Strahlen und Wirbeln wiedergeben zu können, das Delaunays Werk vor allem ausmacht. Es fehlt das Orphische (sie entwickelte mit ihrem Mann Robert die Kunstrichtung des ›Orphismus‹), es fehlt auch das Simultane, von dem das Buch zwar spricht, es aber nicht präsentiert. Mit Delaunays Bildern verglichen wirken Ramos‘ Bilder eher platt und eindimensional. So wie in manchen Passagen auch der Text von Manes, der doch ein wenig zu arg mit dem pädagogischen Zeigefinger wackelt und zu viel erklärt und zu wenig zeigt – wie sich das eigentlich gehört, schon gar in einem Kunstbuch.
Titelangaben
Samantha Friedman: Matisse und sein Garten
Illustriert von Cristina Amodeo
(Matisse’s Garden, 2014) übersetzt von Kati Hertzsch
Mit acht Originalscherenschnitten von Matisse
Zürich: Diogenes 2017
38 Seiten, 20,00 Euro
Bilderbuch, ab 6 Jahren
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Cara Manes: Sonia Delaunay und ihre Farben
Illustriert von Fatinha Ramos
(Sonia Delaunay. A Life of Color, 2017) übersetzt von Kati Hertzsch
Zürich: Diogenes 2018
38 Seiten, 20,00 Euro
Bilderbuch, ab 6 Jahren
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