/

Dialog

TITEL-Texfeld | Wolf Senff: Dialog

Kann sein es ist gar nicht lebensnotwendig, die zehntausend Dinge zu verstehen.

Gut möglich.

Und der Mensch – in der Lage des Tausendfüßlers, der, gefragt, wie er seine zahllosen Beine so tadellos organisiert, nachzudenken beginnt, innehält und aus dem Tritt kommt – strengt sich an, sie zu verstehen, er analysiert, er forscht, und er ist im Begriff, eine Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen.

Denkbar.

Der Grauwal findet sich blind zurecht in den wechselhaften Regionen des Planeten, niemand muß ihm den Weg zu den Lagunen der Baja California weisen, keine Seekarte, kein GPS, und er zieht jedes Jahr zu Tausenden auf seine kräftezehrende Reise nach Süden und kehrt im Spätsommer zurück in den Norden.

Er hat es gelernt?

Er hat es im Blut, er weiß es, lebt seit Hunderttausenden von Jahren im Einklang mit der unermeßlichen Vielfalt der Dinge und hat nicht nötig, sie sich zu erklären, er ist dem Menschen weit voraus.

Wer zweifelt, überlegt, wer überlegen muß, kann falsche Schlüsse ziehen.

Der Mensch ist ein aggressiver Störenfried, er lügt und betrügt, sein Denken zielt darauf ab, sich Vorteile zu verschaffen, wir erleben es täglich, die Kultur des Grauwals hingegen ordnet sich bruchlos in die Zusammenhänge und fügt niemandem einen Schaden zu.

Du siehst schwarz, Lieber, dunkelstes Schwarz.

Es läuft auf das Ende zu, kein Zweifel, und selbst im Abgang wird der Mensch nicht davon absehen, weiteren Schaden anzurichten, oder, die Grundlagen für das Desaster sind längst gelegt, seine Abhängigkeit von hochsensiblen Technologien macht ihn zur Geisel dieser Technologien, was nützen all die ausgeklügelten Geräte, wenn das Personal knapp wird, nicht hinreichend ausgebildet ist, unter der Seuche und den Schwankungen des Klimas leidet oder einfach mit diesen hochgezüchteten Technologien nicht befaßt sein will, es seien seit jeher nur arme Irre, die sich in diese Sphären begäben.

Was niemand wahrhaben will.

Was niemand wahrhaben will. Oder weshalb erfahren wir nichts über die Lebensbedingungen in den Regionen der Stromausfälle, der Überflutungen, von denen in der Saison der Hurricans Hunderttausende betroffen sind, und welche Rolle spielt der Verlust der Lebensgrundlagen, hat nicht im Katastrophenfall halb Florida evakuiert werden sollen, Millionen Menschen waren betroffen, welch ein himmelschreiender Irrsinn, wer setzt einen Funken Vertrauen in solche Anordnung, weder Sinn noch Verstand, und wo bleiben sie denn, die gepriesenen Errungenschaften der Moderne, wo bleiben die Innovationen der Neuzeit, der Mensch kann fliegen, oh du Schneider von Ulm, sie werden versickert sein im Morast und in den gigantischen Deponien des Abfalls, heimgesucht von einer Ölpest, verklebt, wo sind sie, die Errungenschaften, die den Völkern Wohlstand bringen, die schützen vor den klimatischen Wechselfällen, der Mensch kann fliegen, oder war alles ganz anders, schützen vor dem Abschmelzen der polaren Eiskappen, vor dem Abklingen des Golfstroms, oder war alles ganz anders, nicht so gemeint, doch versprochen ist versprochen, also wo sind sie, die Errungenschaften, die verheißenen Wunder der Technik, Abrakadabra und Simsalabim, herbei mit euch, herbei!

Schön gesagt, und vergiß es gleich wieder. Zuflucht kannst du streichen, es gibt keine Zuflucht, alles ist schrecklich vorhersehbar.

Die tonangebenden Eliten, die herrschenden Kreise mitsamt ihren freigiebigen Spendern, sie werden kompromißlos weiter agieren wie bisher, gute Laune verbreiten und sich als strahlende Retter der Menschheit inszenieren, frohgemut mit dem Kopf gegen die Wand, sie merken nichts, doch alles ist schrecklich vorhersehbar, sie bewegen sich längst auf steil abschüssigem Terrain, das Tempo beschleunigt sich immens, Abrakadabra und Simsalabim, der Mensch kann fliegen, oh du Schneider von Ulm, sie nehmen das nicht zur Kenntnis, nein, weshalb, sie sind gelähmt, bei maximalem Tempo sind sie gelähmt, alternativlos, Druck lastet schwer auf ihren Ohren und macht sie taub, there is no such thing like society, sie stürzen abwärts, gute Laune verbreitend und sich als strahlende Retter der Menschheit inszenierend, abhängig von ihren Technologien und unfähig, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, ah ja, der Rausch, immer schon war es der Rausch, der Mammon, der Goldrausch, der Rausch der Märkte, nein, nichts das sie ernüchtern würde, weit und breit nichts, der Mensch kann fliegen, ah ja.

| WOLF SENFF
| Titelfoto: KimonBerlin, Monterey Bay Cruise 2009-02-15 (3366305053), flares, CC BY-SA 2.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Tausend Eier auf dem Meer

Nächster Artikel

Foul Play

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kulturrevoltion

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolution

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war rückte ungeduldig näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Türöffner zum alten Ägypten?

Titanen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Titanen

Leidenschaftlich, erklärte Annika, ja, sie fotografiere leidenschaftlich, und schenkte Tee in die zierlichen Tassen mit dem Drachenmotiv, Yin Zhen, eineinviertel Minute, maximal anderthalb.

Farb schwieg.

Tilman lehnte sich zurück und genoß die sommerlichen Temperaturen, er trug ein kurzärmeliges, groß geblümtes, farbenfrohes Hemd.

Für ihr Projekt sei sie mehrmals die Strecke Hamburg-Berlin gefahren.

Mit der Bahn?

Sicher, mit der Bahn, ergänzte sie, und sie fotografiere ihre Motive durch das Fenster. Sie faßte zu dem winzigen blauen Buch, das sie als Clip an ihrem Ohrläppchen trug.

Aus dem fahrenden Zug?

Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Vorgeblättert

Kurzprosa | Literaturkalender 2024

Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.

Grönland

TITEL | Textfeld: Wolf Senff: Grönland

Sie reden vom Klimawandel, sagte Farb, und schwadronieren von seinen angeblich positiven Seiten.

Die USA haben die Insel käuflich erwerben wollen.

Ein schlechter Witz, spottete Farb, in welchen Zeiten leben wir.

Es gab sogar wiederholte Angebote.

Sie firmiert als größte Insel des Planeten, Tilman, ist zu achtzig Prozent mit einem Eisschild bedeckt, schmale Küstenstreifen sind besiedelt, doch die Temperaturen steigen und Eis schmilzt, Bodenschätze werden vermutet, seltene Erden, jeder sucht seltene Erden, da herrscht kein Mangel an Investoren.