Neue Challenge, neuer Chill

Roman | Juli Zeh: Über Menschen

Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Juli Zeh gehört zu den großen deutschen Gegenwartsautoren, die Stellung beziehen. Ihr nunmehr zehnter Roman bewegt sich so nah am Puls der Zeit wie kaum ein anderer. Gutmensch trifft auf AfD-Wähler, Weltuntergangsstimmung auf Werber-Slang, Stadtflucht auf Social Correctness. Es lässt sich nicht abstreiten: Über Menschen verfügt über alle Zutaten für einen gelungenen Corona-Bestseller. Von INGEBORG JAISER

Ueber Menschen von Juli Zeh

Die Nachbarschaft ist unverkennbar und sicher auch gewollt: Unterleuten und Über Menschen ähneln sich nicht nur verbal, sondern spielen auch in derselben Gegend: in der brandenburgischen Provinz, umgeben von einer entvölkerten Landschaft fernab des Berliner Speckgürtels. Bracken nennt sich das fiktive Dorf mit bröckelnder Aura und einem Ortsnamen, der wenig Gutes ahnen lässt.

Dahin flieht die Werbetexterin Dora mitten (und vielleicht auch wegen) der Pandemie, obwohl ihr Ausbruch bewusst keine »neurotische Kurzschlussreaktion« sein soll. Schließlich lässt sich eine Übersiedlung unter Risikominimierung sehr zeitgeistig planen: Das verfallene Gutsverwalterhäuschen findet sich auf eBay-Kleinanzeigen, das Dorf hat einen Wikipedia-Eintrag und für die Gartenarbeit gibt es YouTube-Tutorials.

Noch schnell die Welt retten

Natürlich wird das Experiment von harten Fakten und ebensolchem Vokabular flankiert: Notar, Nutzfläche, Flurstück. Zwischendrin sollten auch noch die Frühkartoffeln gesetzt werden. Dora ist mit einem zupackenden Pragmatismus gesegnet, denn: »Glücklicherweise gehört sie nicht zu den Menschen, die glauben, man müsse Maschinenbau studieren, bevor man den Heizungszähler ablesen kann.«

Dennoch hat ihr das Leben in Berlin zuletzt die Luft abgeschnürt – eingepresst zwischen dem vom »Klimaaktivisten zum Epidemiologen« konvertierten Lebensgefährten Robert, der in seiner hyperventilierenden Aufgeregtheit mahnende Online-Kolumnen mit Weltretter-Attitüden füllt, und ihrer eigenen Tätigkeit als Senior-Copywriter in einer Werbeagentur, die letztendlich über ihre eigene Social Correctness stolpert. Zuweilen wird Dora von ihrer inneren Denkmaschinerie überrollt, die hinter jeder Situation einen Claim wittert. »Neue Challenge – neuer Chill« gehört noch zu den besseren. »Kanacken in Bracken« klingt schon fast nach Tourette-Syndrom.

Vermeintliche Landidylle

Doch wird der Relaunch des eigenen Lebens unter neuen Vorzeichen gelingen? Findet sich in der Provinz mehr Authentizität? Stadtflucht als Romanthema ist seit einiger Zeit sehr gefragt. Man denke nur an Dörte Hansens Mittagstunde, Ewald Arenz´ Alte Sorten oder an Ein Haus auf dem Land von Jan Brandt.

Juli Zeh – selbst landerfahren und schon vor langer Zeit ins Brandenburgische ausgewandert – entwirft in Über Menschen ein ländliches Soziotop, in der eine Städterin aus dem linksliberalen Milieu mit voller Wucht auf Mitmenschen prallt, die hinter ihrem bisherigen Erfahrungshorizont liegen. Auch eine neue Erkenntnis: »Corona hat die Privilegien neu verteilt.« Welch geschickter Kunstgriff, die Geschichte über die durch Werbeclips und Slogans geschulte Wahrnehmung der Protagonistin zu filtern.

Clash of Civilizations

Es treten unter anderem auf: ein das Horst-Wessel-Lied grölende »Dorf-Nazi«, der wegen versuchten Totschlags einsaß, aber selbst von einem Hirntumor mit erheblicher Raumforderung bedroht wird. Ein homosexueller Blumenhändler, der mit einem linken Kabarettisten vom Niederrhein zusammenlebt. Eine alleinerziehende Mutter, die Nachtschichten in einer Gießerei schiebt, um tagsüber ihre Kinder betreuen zu können. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und es bekräftigt Dora in ihrem Bedürfnis, sich nicht festzulegen. Eine elementare Einsicht versteckt sich mitten im Roman: »In Bracken ist man unter Leuten, da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.«

Stringent und geradeheraus erzählt Juli Zeh von den Fallstricken des Landlebens und den Trugschlüssen der Gutmenschen vor einer pandemieverunsicherten Gegenwart, die alle vermeintlichen Erkenntnisse infrage stellt. Kein einziges Kapitel, kein einziger Satz des über 400-Seiten-Romans langweilt. Die Lektüre ist ein aufschlussreiches, anregendes, unterhaltsames Vergnügen für diesen zweiten Corona-Frühling – falls man nicht gerade mit dem Setzen von Saatkartoffeln beschäftigt ist.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Juli Zeh: Über Menschen
München: Luchterhand 2021
412 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von tanzenden Menschen beim Oktoberfest und rachsüchtigen Mücken

Nächster Artikel

Ein kleines Paradies

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der Robin Hood von L.A.

Roman | Ryan Gattis: Safe Vor anderthalb Jahren erregte der in Los Angeles lebende Ryan Gattis (Jahrgang 1987) mit seinem Debütroman In den Straßen die Wut große Aufmerksamkeit. Nun hat er einen zweiten Roman vorgelegt. Wieder ist Gattis Heimatstadt die Kulisse für ein atemberaubendes Gangsterstück. Und ging es in dem Erstling um die 1992er Unruhen nach dem Freispruch für vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King ein Jahr vorher nach einer wilden Verfolgungsjagd unverhältnismäßig brutal zusammengeschlagen hatten, so spielen die so genannten »Los Angeles Riots« auch in dem im Krisenjahr 2008 angesiedelten Safe noch eine wichtige Rolle. Eine Rezension von

Relikte aus dem Kalten Krieg

Krimi | Oliver Harris: London Underground Nach London Killing (Blessing 2012), dem hochgelobten Debüt des britischen Autors Oliver Harris (Jahrgang 1978), liegt jetzt mit London Underground der zweite Fall für Detective Nick Belsey auf Deutsch vor. Diesmal bekommt es der Mann mit der dunklen Seite seiner Heimatstadt zu tun, muss hinunter in Schächte, geheime Atombunker und vergessene Bahnstationen, um eine Rachegeschichte aufzudecken, die zurückreicht bis in die Hochzeiten des Kalten Kriegs. Spannend, wendungsreich und aktueller, als man denkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein Superheld im Super-Wirr-Warr

Roman| Alina Bronsky: Nenn mich einfach Superheld Wie kann das arme Opfer eines Kampfhundunfalls ein Superheld sein? In Alina Bronskys Roman Nenn mich einfach Superheld beweist Marek genau dies, indem er das Leben mit all seinen Problemen, Verrücktheiten und Liebeleien gekonnt meistert – mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus in petto. Von ANNA NISCH

Anfang und Ende

Kurzprosa | Barbara Honigmanns: Chronik meiner Straße »Wenn wir sagen, dass wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.« So lautet der erste, beinahe programmatisch anmutende Satz in Barbara Honigmanns autobiografischer Skizze über jene Straße im Osten Straßburgs, in der sie seit ihrer Übersiedlung aus Ost-Berlin im Jahr 1984 lebt. Barbara Honigmanns Chronik meiner Straße – in einer Rezension von PETER MOHR

Schicksale, die sich kreuzen

Roman | Merle Kröger: Havarie Nachdem Merle Kröger mit ihrem letzten Roman ›Grenzfall‹ (2012) einen Politthriller vorgelegt hat, dessen Schauplätze sich vor allem in Europas Osten befanden, nimmt sie ihre Leser nun, in ›Havarie‹, mit auf das Mittelmeer. In der kurzen Zeit von knapp 48 Stunden begegnen sich dort vier Schiffe: ein Luxusliner, dessen Passagieren es an nichts fehlt, ein Schlauchboot, dessen Insassen von einer besseren Zukunft in Europa träumen, ein irischer Frachter und ein Schiff der spanischen Seenotrettung aus Cartagena. Von DIETMAR JACOBSEN