Beichte ohne Buße

Roman | John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen

Wie begegnen sich Menschen in Zeiten der Kontaktbeschränkung und des Social Distancing? Was macht die Corona-Pandemie mit Familien? Wie nah liegen Leben und Tod beisammen? Von emotionaler Zerrissenheit und tiefgreifenden Konflikten dreier Generationen im Frühjahr 2020 erzählt John von Düffels neuer Roman Die Wütenden und die Schuldigen, episodenhaft und aus wechselnder Perspektive. Von INGEBORG JAISER

Der Titel dieses Romans könnte einem Werk von Dostojewski entstammen, tief in die menschliche Seele leuchtend, aufwühlend und ergreifend. Und tatsächlich rührt Die Wütenden und die Schuldigen an den existentiellen Fragen unseres Lebens, die sich im vergangenen Jahr unter Pandemiebedingungen eher noch verdichtet und zugespitzt haben.

So hat John von Düffel wohl einen der ersten deutschen Corona-Romane verfasst – doch vordergründig die Chronik einer Familie, die nicht zusammenkommen kann. Wobei die erlebte Isolation nicht immer dem System zuzuschreiben ist.

Die Schuld der Überlebenden

Im Mittelpunkt der Geschichte befindet sich eine Leerstelle, ein blinder Punkt. Der Mensch, um den sich alles dreht und kreist, ist mit keiner aktiven Handlung, keiner direkten Aussage vertreten. Der Ehegatte, Sohn und Vater Holger lebt nach einem Suizidversuch seit längerem in verschiedenen psychiatrischen Kliniken und Rehaeinrichtungen, weggesperrt, doch auch vom Zugriff seiner Familie verschont.  Um ihn herum wirbeln wie in einem Spiralnebel die versprengten Akteure dieses Romans. Zuallererst sein Vater Richard, ein desillusionierter ehemaliger Pfarrer, vom austherapierten Krebs niedergezwungen und in seinem brandenburgischen Exil auf ein erlösendes Ende hoffend. Mit galligem Humor verteidigt er nicht nur seinen verwilderten Garten: »Die Männer vom Grünflächenamt, die neulich oder vielleicht schon vor Jahren zum Mähen und Beschneiden gekommen waren, hatte er mit den Worten vertrieben: Hier gärtnert Gott.«

Holgers Ex-Ehefrau Maria, eine Anästhesistin an der Charité, wird aufgrund des Infektionsschutzes zu einer zweiwöchigen Quarantäne verdammt – ein überraschender Ernstfall, den sie am liebsten in Vollnarkose überstehen würde. Dass sie diese Zeit ausgerechnet in einem Yuppie-Appartement mit dem Rabbi des israelischen Botschafters verbringt, wahrscheinlich nicht nur in philosophisch-religiöse Themen vertieft, ist eine Story für sich. Immerhin ist Marias beste Freundin Kathi als engagierte Palliativmedizinerin auf dem Weg zu Richard, um ihm auf seiner letzten Reise zur Seite zu stehen.

Ihr wird auch die titelgebende Äußerung in den Mund gelegt, »dass es am Ende zwei Arten von Sterbenden gibt, die Wütenden und die Schuldigen.« Begleitet wird Kathi von Marias Tochter Selma, die mit den besten Absichten unterwegs ist, doch an den harschen Spielregeln der ostdeutschen Provinz zu scheitern droht. Dagegen scheint ihr Bruder Jakob, ein etwas desorientierter Kunststudent ohne Plan und Ziel, ständig zwischen Beziehungsnotstand und Drogenproblemen zu schwanken. Die Szenen seiner unsäglichen Verirrungen schrammen hart am Klamauk vorbei.

Betäubung und Phantomschmerz

Eine konfliktbeladene Figurenkonstellation während des Ausnahmezustands des ersten Corona-Lockdowns: das könnte eine bewegende, emotional aufwühlende Geschichte versprechen. Ohne Frage dürfte John von Düffel mit hehren Zielen angetreten sein.  Die Wütenden und die Schuldigen quälen sich mit den elementaren Themen der menschlichen Existenz, mit Lust und Verlust, Gier und Begierde, Schuld und Vergebung, zuweilen hoffnungsvoll geläutert angesichts einer Beichte ohne Buße. Manche balancieren am Rande des Erträglichen und bedienen sich nicht immer rezeptfreier Substanzen. Beeindruckend sind die Szenen, in denen Richard durch einen fiebrigen Fentanyl-Traum wabert, Jakobs Genuss von Haschischkeksen mit einem »Soundtrack voller Explosionen, Fluten, Wirbelstürmen« unterlegt ist und Selma unfreiwillig weinbrandbetäubt die gewaltvollen Übergriffe der uckermärkischen Dorfjugend erträgt.

Doch auch dem Leser schwindelt es schon bald angesichts der verworrenen Handlungsstränge, die durch das Überangebot an lebensphilosophischen Weisheiten und psychologischen Anspielungen nicht gerade abgefedert werden.  Der höchst erfahrene und mehrfach ausgezeichnete Autor John von Düffel jongliert gekonnt mit sprachlicher Finesse, Wortspielereien und bildhaften Sentenzen, wollte jedoch eindeutig zu viel in seinen Roman hineinpacken. So erfordert die Lektüre einen selektierenden Blick. Denn an berührenden Passagen und tiefgründigen Aussagen mangelt es nicht.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen
Köln: Dumont 2021
313 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Hui-neng

Nächster Artikel

Traumberuf

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Flaute in der Seele

Roman | Philipp Blom: Bei Sturm am Meer

Was geschieht, wenn eine intensiv gelebte Existenz sich mit einem Mal in Rauch auflöst und erlischt? Philipp Blom erzählt in ›Bei Sturm am Meer‹ von vertanen Chancen, Lebenslügen und Sackgassen, in die sich Ben, Marketingspezialist in der Wiener Museenlandschaft, laufend hineinmanövriert. Zwischen Vätern, die keine sind und solchen, die keine werden, laviert sich der schlaffe Protagonist durch sein vergeudetes Leben. VIOLA STOCKER betrachtet ein Feuer, das in sich erstickt.

Wenn die Socken sprechen

Roman | Gerda Blees: Wir sind das Licht

Eine Frau verhungert, und drei ihr nahestehende Personen schauen ihr dabei zu. Das ist der beklemmende Handlungsrahmen des Romans Wir sind das Licht aus der Feder der 37-jährigen niederländischen Schriftstellerin Gerda Blees. Bisher waren lediglich eine Sammlung von Kurzgeschichten und ein schmaler Lyrikband aus der Feder der in Haarlem lebenden Autorin erschienen. Von PETER MOHR

Morgen früh auf dem Heldenplatz

Roman | Elisabeth De Waal: Donnerstags bei Kanakis Der Roman Donnerstags bei Kanakis wurde zu Lebzeiten der Autorin Elisabeth De Waal nie publiziert, gelangte jedoch nach ihrem Tod als vergilbtes Typoskript in die Hände ihres Enkels. Nun wurde das ausdrucksvolle zeitgeschichtliche Porträt der Wiener Nachkriegszeit erstmals veröffentlicht. Von INGEBORG JAISER

Jesus besucht Berlin

Roman | Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister

»Worum wir dich bitten, ist, dass du Jeschua für ein paar Tage begleitest. Er wird demnächst da sein, jedoch nicht für lange, was man bei ihm vorher nie genau weiß, da er sich ungern festlegt. Er ist zum ersten Mal in der Stadt, deshalb braucht er jemanden, der ihn herumführt.« Von PETER MOHR

Klavier spielen auf dem Cello

Roman | Natascha Wodin: Nastjas Tränen

»Die Treppe herauf kam eine sehr schmale, schüchtern wirkende Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, aber aussah wie ein Mädchen. Sie trug Jeans und einen Rucksack auf den Schultern.« So beschreibt die inzwischen 76-jährige Schriftstellerin Natascha Wodin die Protagonistin ihres neuen Romans Nastjas Tränen. Wodin, deren literarisches Werk durchgehend einen autobiografischen Background hat, war vor vier Jahren für ihren Roman Sie kam aus Mariupol mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Darin hatte sich die Schriftstellerin, die als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter 1945 in einem Lager in Franken geboren wurde, in leisen Tönen dem Leben ihrer Mutter angenähert. Von PETER MOHR