Untertauchen in eine andere Welt

Kinderbuch | Marlies van der Wel: Seesucht

Oft gelingt einem etwas sein ganzes Leben nicht. Sei es, dass die anderen einen daran hindern, sei es, dass man mutlos wird. Beides passiert auch Jonas, der immer ins Wasser will, die Unterwasserwelt erleben. Marlies van der Wels Buch ›Seesucht‹ erzählt von dieser Sehnsucht. Von GEORG PATZER

Die Zeichnung zeigt einen Jungen, der im Wasser untertauchtEs ist immer dasselbe: Er soll nicht, er darf nicht, er kann nicht. Dabei ist Jonas vom Meer fasziniert, seit er zwei Jahre alt ist. Und als er zum ersten Mal am Meer ist, springt er aus dem Kinderwagen und rennt los und schaut. Das Meer. Eine Weite, ein Rauschen, ein Rhythmus. Das große Offene. Und es flüstert ihm zu: »Komm her. Komm mit. Komm rein.« Und schwupps! ist Jonas reingesprungen, schwimmt mit den Fischen in seinem gestreiften Badeanzug, in einem schwungvollen Kreis und taucht immer tiefer. Bewegt sich wie die Quallen, schlängelt sich durch das Seegras und nimmt einen großen Schluck Wasser, wie die Fische.

Aber dann zieht ihn seine Mutter heraus: »Ach herrje! Was machst du denn für Sachen?! Du gehörst ans Ufer, nicht ins Meer.« Aber sie hat unrecht. Jonas gehört wirklich ins Meer.

Als er acht ist, sammelt er Strandgut, und in einem umgedrehten Regenschirm geht es wieder hinaus. Wirft den Anker aus und hängt seinen Kopf, geschützt von einer Taucherglocke, ins Wasser. Sieht einem Schwarm hinterher, der elegant davonschwimmt. Aber dann reißt das Ankerseil, und Jonas kentert, die Fischer lachen ihn aus. Mit 18 Jahren hat er eine große Tonne gebastelt, ein »Schnorchelfass«, den Schnorchel kann er weit ausfahren. Er genießt das grüne Licht unter Wasser, rudert mit den Armen und nähert sich einem Schwarm. Plötzlich schwappen hohe Wellen über die Schnorchelöffnung – glücklicherweise wird Jonas von einer großen Welle an Land gespült. Die Fischer lachen und schütteln den Kopf: »Ein Mensch gehört an Land und nicht ans Meer.«

In einem atmosphärisch sehr dichten Bilderbuch erzählt die niederländische Autorin Marlies van der Wel die Geschichte von Jonas, der ins Meer will. Passenderweise heißt der Junge Jonas – wie der Mann aus der Bibel, der auf dem Meer von einem Wal verschlungen und später wieder ausgespuckt wird. Van der Wels Bilder sind manchmal wie tiefgründige Gemälde, zeigen stimmungsvoll die stille Unterwasserwelt, das lautlose Gleiten der Fische, das Schwappen der Wellen, das Hineinplatschen des Jungen und jungen Manns. Jonas selbst ist ein bisschen comichaft mit klaren Linien gezeichnet: Deutlich ist sein brillenbewehrtes Staunen über die wunderbare Welt zu sehen, in der er lieber ist, als oben auf dem sicheren Land und seine tiefe Enttäuschung, wenn es immer wieder und wieder nicht klappen will.

Denn auch als 30-Jähriger versucht er es, mit einer Rakete, die dann irgendwann auf Widerstand trifft: »SCHEPPER! Ein lauter Knall, ein Ruck, ein Zuck!« Aber es war nicht einmal der Meeresboden oder ein Stein: »Jonas wird aus dem Wasser gezogen. Die Fischer klatschen in die Hände. So einen großen Fisch haben sie noch nie gefangen!« Und da ist Jonas so frustriert, dass er weitere Versuche einstellt. Aber er sammelt weiter Strandgut, sechzig Jahre lang. Und dann kommt Regen und eine große Flut und damit seine große Chance, als 80-Jähriger.

›Seesucht‹ erzählt eine schöne Geschichte von einer Sehnsucht, die die anderen Menschen nicht verstehen, nicht nachvollziehen können. Eine Geschichte vom Erfolg, wenn man nicht locker lässt, auch wenn es noch so lange dauert. Wenn man zu seiner großen Liebe steht. Mit vielen kleinen, sorgsam in die Bilder gesetzten Details, die vom Leben unter Wasser erzählen, von der grünen Dunkelheit tief unten, von den seltsamen Welten, die wir normalerweise nicht sehen. Und so, wie Jonas immer größer wird, werden auch seine Tauchapparate größer, auch die Fische und die Boote der Fischer. Und manchmal ist dafür die Schrift so klein, dass man sie fast nicht sieht in all dem Meereswasser, das die Seiten ganz ausfüllt.

Titelangaben
Marlies van der Wel: Seesucht
(Zeezucht, 2017), übersetzt von Birgit Erdmann
München: Mixtvision 2021
78 Seiten, 20 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn der Tod im Osten Einzug hält

Nächster Artikel

Doppeltes Aus

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Südländisches Temperament

Kinderbuch | Luisa Schauenberg: Lotta hat heute keine Lust

Mal einfach keine Lust zu haben, einfach mal zu faulenzen, einfach mal abzuhängen, das kann regelrecht ansteckend sein, wie dieses lustige Bilderbuch beweist. BARBARA WEGMANN hätte sich fast auch angesteckt.

Ewige Freundschaft

Kinderbuch | Die Fan-Brüder: Barnaby ausgepackt!

Neues ist reizvoll und erfreut sich besonderer Beliebtheit. So ist es auch mit Barnaby, einem ganz reizenden Kuscheltier. Er macht ein kleines Mädchen sehr glücklich – bis eine neue Serie auf den Markt kommt, noch aufregender, noch bunter. »Eine ganz besondere Geschichte«, findet ANDREA WANNER

Wunderbarer Regentag

Kinderbuch | Soheyla Sadr: Matti, Mütze und Pfütze Geplant ist ein Ausflug, den Papa und Matti zusammen unternehmen wollen. Doch dann regnet es. Fällt der Ausflug jetzt ins Wasser? Von wegen! Von ANDREA WANNER

Warum die Dinge nie zu Ende sind

Bilderbuch | Cee Neudert: Mach’s gut, Eichhörnchen

Das ist gar nicht so einfach, das mit dem Sterben, dem Tod, dem Traurigsein und dem Verlust. Da tut es gut, wenn man mit jemandem reden kann. Denn Reden hilft immer. So wie hier in dieser Geschichte, in der ein Kind mit seiner Oma durch den Herbstwald geht und auf ein totes Eichhörnchen trifft. Die Oma geht nicht weiter, sagt nicht, ach, das ist noch nichts für dich, nein, sie hört zu, erzählt und beantwortet jede Frage. »Sehr anrührend«, meint BARBARA WEGMANN

Schluck. Grusel. Heul: Urlaub der besonderen Art

Kinderbuch | Annalisa Strada: Familie von Zitterstein und das Hotel »Zum langen Schatten«

Manche fahren in die Berge, andere ans Meer. Wer ein besonderes Ferienerlebnis sucht, dem sei das Hotel »Zum langen Schatten« besonders ans Herz gelegt, dann neben der angenehmen Unterbringung und dem vorzüglichen Essen gibt es die Möglichkeit eines Picknicks in der Gruft, die Suche nach verzauberten Schätzen und gänzlich unvorhergesehene Abenteuer. Von ANDREA WANNER