Kinderbuch | Stefan Boonen: Der Riese, der mit dem Regen kam
Ein hässliches Hochhaus, unsympathische Nachbarinnen, pubertierende Rowdys, Armut und vernachlässigte Kinder, das hat man doch schon alles gelesen. Und nicht nur einmal.
Aber nicht mit Riesen!
Stefan Boonen hat sich für sein jüngstes Kinderbuch etwas Besonderes ausgedacht, ganz, ganz besonders. Von MAGALI HEISSLER
Albert wohnt im Sommerhochhaus. Ein schöner Name, bestimmt macht es glücklich, in so einem Haus zu wohnen. Das Gegenteil ist der Fall. Aus dem Haus kann man nur fortziehen. Wer einzieht, der muss, weil es sonst keine billigere Unterkunft gibt. Ohnehin sind von den vierzehn Stockwerken nur noch sechs bewohnt. Das Hochhaus bröckelt vor sich hin.
Albert liebt das Sommerhochhaus. Niemand kennt es so gut wie er. Die Risse in den Wänden, vor allem im Keller, das hässliche Treppenhaus, sogar die leeren Wohnungen und das verbotene Flachdach, auf dem ein Palme wächst, von der niemand weiß, wie sie dahingekommen ist. Albert kennt auch die Umgebung genau, bis hin zur letzten Mülltüte irgendwo im Gebüsch. Er gehört hierher. Wohin auch sonst? Die fünf Schwestern übersehen ihn. Seine Mutter hält ihn für ein Wechselbalg. Der ältere Junge aus dem ersten Stock macht ihm Angst. Als Kalinda einzieht, verändert sich alles.
Das liegt allerdings weniger an Kalinda, als daran, dass sie beide ganz unabhängig voneinander mitten in der Nacht einen Riesen sehen. Natürlich gehen sie gleich auf Entdeckungstour. Den Riesen gibt es tatsächlich.
Es gibt aber auch Hund Moppel, der von seiner Besitzerin vom Balkon getreten wird, die Absicht von Alberts Mutter, Albert loszuwerden, die Absicht von Kalindas Mutter, wieder einmal umzuziehen und den Plan der Hausbesitzerin, das Hochhaus abzureißen. Währenddessen braut sich über dem Meer schon der ganz große Sturm zusammen und bewegt sich immer schneller auf das Sommerhochhaus zu.
Märchen ohne Märchenhaftes
Boonen erzählt ein Märchen. Das ist etwas verwunderlich auf den ersten Blick, bis einer einfällt, dass die klassischen Märchen genau von dem erzählen, wovon auch Boonen spricht. Eigensüchtige Eltern, Tierquälerei, bittere Armut, Boshaftigkeit, tiefe Ängste. Die klassische Figurenbühne wird präsentiert. Hexe und gute Fee, Zauberer und weiser Mann, eine Prinzessin, der junge Held, der sich bewähren muss. Dass Riesen auftreten, ist so besehen gar kein Wunder.
Die Handlung ist alles andere als märchenhaft, die Gesetze der Realität sind hart und wirken unerbittlich. Geschönt wird nicht. Zugleich zeigt Boonen die Menschen differenziert. Traditionelle Schwarz-Weiß-Malerei findet man nicht. Traditionelles Eingreifen zum guten Ende allerdings auch nicht. An solchen Stellen ist Boonens Geschichte rundum ehrlich. Man kann niemanden retten, der nicht gerettet werden will, Probleme verschwinden nicht, Menschen ändern ihre Pläne nicht über Nacht, der bequeme Weg ist immer der nächstliegende, Versprechungen halten nur bis zum nächsten Sonnenaufgang und das Gold, das glänzt, war nie zum Teilen gedacht.
Fantasie, Überraschungen und ein wunderbarer kleiner Held
In diesem Kinderbuch ist man nicht nur auf keiner Seite vor Überraschungen sicher, sie sind darüber hinaus so fantasievoll, dass man im besten Sinn erschüttert wird beim Lesen. Etwas erwarten, vorausdenken, gar vorhersehen kann man hier kaum. Mitdenken allerdings schon, das tut dem Vergnügen keinerlei Abbruch. Es ist überbordendes Erzählen, hingebungsvoll, alles andere als alltäglich. Die klare, zeitgemäße Sprache unterstützt das noch. Verfremdet wird sie, wenn der Riese spricht. Seine Sätze sind herrlich verdreht und altmodisch gewendet, eine Reminiszenz an alte Märchen und die moderne Wiedergabe von Fremdem heutzutage zugleich. Andrea Kluitmann überträgt jede Sprachebene gleichermaßen sorgfältig wie augenzwinkernd in ein Deutsch, das Boonens frischen Ton unbeeinträchtigt wiedergibt.
Die Geschichte gewinnt noch mit den Bildern, die wie leuchtende Juwelen eines Märchenschatzes eingestreut im Buch auftauchen. Ganzseitig, halbseitig, intensiv leuchtend rot, harsch gelb, tröstendes Blau, bedrohlich grauschwarz der Hintergrund. Die Details sind sparsam, aus wenigen geraden Strichen, oft winzig klein. Als ob ein Riese sie betrachte. Oder jemand vom Dach des Hochhauses.
Am Ende ist man recht traurig, dass man sich von Albert verabschieden muss. Albert ist unbestritten ein Held, ein sehr tapferes Kind, das keine Ansprüche hat, außer endlich einmal geliebt zu werden. Wie man lieben kann, führt er vor. Seine Zuneigung zum Sommerhochhaus und der unwirtlichen Umgebung ist so groß, dass man selbst als Leserin Lust bekommt, dieses hässliche Ding einmal zu sehen und sich von Albert herumführen zu lassen. Dazu ist es zu spät und alle Bewohnerinnen und Bewohner sind fort. Leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Sie versuchen es zumindest, der Autor gibt einige Hinweise, was aus ihnen geworden ist. Und aus dem Sommerhochhaus. Alles ganz realistisch.
Boonens Geschichte ist eine traurige. Ein Wunder gibt es jedoch am Ende, klar. Das muss in einem Märchen auch so sein.
Titelangaben
Stefan Boonen: Der Riese, der mit dem Regen kam
Mit farbigen Bildern von Tom Schoonooghe
(2012 De Reus van de Zomerflat, 2012) Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Frankfurt: Fischer KJB 2016
253 Seiten, 14,99 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
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