Traurig und glücklich

Roman | Sigrid Nunez: Was fehlt dir

»Wenn die Leute fragen, warum ich mich so hingezogen fühle zum Thema Sterblichkeit, dann will ich immer antworten, dass es doch eher so ist, dass die Sterblichkeit mich zu sich heranzieht«, erklärte die kürzlich 70 Jahre alt gewordene amerikanische Autorin Sigrid Nunez, die erst 2018 mit ihrem später mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman Der Freund den literarischen  Durchbruch geschafft hatte. PETER MOHR rezensiert den neuen Roman Was fehlt dir von Sigrid Nunez.

Nunez, die äußerst lesenswerte semi-fiktive Bücher über Virgina Woolf und Susan Sontag (mit der sie befreundet war und für die sie einst arbeitete) geschrieben hat, wurde in diesem Jahr in die »American Academy of Arts and Letters« berufen. Später, aber verdienter Ruhm für eine Frau, die so wundervoll unprätentiös, aber doch absolut präzise zu formulieren versteht.

In ihrem neuen Roman geht es wieder um Tod und Freundschaft – angereichert mit einem Exkurs über globale Bedrohungen für die Menschheit. Im Zentrum stehen drei namenlose Figuren, deren Lebenswege sich vor einiger Zeit getrennt hatten und die dann auf geheimnisvolle Weise von Sigrid Nunez wieder verknüpft werden. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin fortgeschrittenen Alters, die der Autorin nicht unähnlich ist, erfährt vom Schicksal einer früheren Freundin, die an Krebs im Endstadium leidet. Ist es Mitleid oder Nächstenliebe? Die Protagonistin macht sich jedenfalls auf den Weg zur Erkrankten, deren einzige Tochter den Kontakt abgebrochen hat.

Die Hauptfigur ist sich sicher, dass es das letzte Treffen sein wird. Sie mietet sich in der Nähe ein preiswertes Zimmer und gerät eher zufällig am Abend in einen apokalyptischen Vortrag eines bekannten Professors, in dem (die deutsche Querdenker-Szene lässt grüßen)  von allerlei Verschwörungen und vom Bankrott der Politik die Rede ist. »Die Selbstfürsorge, Bewältigung der eigenen alltäglichen Ängste, Vermeidung von Stress sind zum höchsten Ziel unserer Gesellschaft geworden, sagte er – offensichtlich höher als die Rettung der Gesellschaft selbst.« Später erfahren wir, dass der als eine Art intellektueller »Überbau« in die Handlung integrierte umstrittene Akademiker der ehemalige Lebensgefährte der Ich-Erzählerin ist.

Die beiden Frauen mieten sich ein hübsches Haus an der Küste Neuenglands, sehen sich alte Filme an, lesen gemeinsam Märchen und bekochen einander. Ein Ambiente wie im Urlaub, wäre da nicht das Damoklesschwert der tödlichen Krankheit. Die Frauen genießen die Zweisamkeit. Und doch befindet sich die Hauptfigur in einer ständigen Gratwanderung zwischen Notlügen, Wahrheit, Aufmunterung und Trost. Es ist ein schwieriger Spagat bei jedem Gespräch, verbunden mit einem permanenten Sich-Selbst-Hinterfragen, wie die eigenen Worte von der Kranken aufgenommen werden. »Wohl wissend, dass jedes Wort ein anderes hätte sein können. Wie das Leben meiner Freundin, wie jedes andere Leben anders hätte sein können.«

Die Sterbende will bis zum Schluss das Zepter des Handelns in den eigenen Händen halten und hat sich mit »erlösenden« Tabletten versorgt: »Der Krebs kann mir nichts antun, wenn ich mir selbst etwas antue.«

Sigrid Nunez‘ große Kunst besteht darin, mit sparsamem Vokabular und ohne jedes Pathos ein Höchstmaß an Empathie in Worte zu kleiden und daraus Sequenzen zu gestalten, die in feinen Dosen menschliche Wärme, Anteilnahme und Innigkeit versprühen.

Ein Roman zwischen Trauer und Trost, zwischen Lachen und Weinen, der uns mit der Gewissheit zurücklässt, das nichts mehr so ist, wie es einmal war. »Diese traurigste aller Zeiten, die auch eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens gewesen ist, wird vorbei sein. Und ich werde allein sein«, resümiert die Protagonistin.

| PETER MOHR

Titelangaben
Sigrid Nunez: Was fehlt dir
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Berlin: Aufbau Verlag 2021
220 Seiten. 20 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Sigrid Nunez in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Großer Spaß ohne große Worte

Nächster Artikel

Wahre Stärke

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zwischen Humor und Weltpolitik

Roman | Jakob Augstein: Die Farbe des Feuers

»Ich habe immer schon geglaubt, dass die Vorstellung, dass wir Herr dessen sind, was wir tun, eine notwendige Vorstellung und ein Irrtum ist. Wir müssen das glauben, sonst bricht alles zusammen. Aber ich glaube, das ist Quark«, bekannte kürzlich Jakob Augstein. Von PETER MOHR

Detektive sind wieder in

Roman | Lisa Sandlin: Ein Job für Delpha 14 Jahre hat Delpha Wade im Gefängnis von Gatesville/Texas gesessen. Und während dieser Zeit die Beatles, die Beach-Boys, die Supremes und Gott weiß noch welche Superband der goldenen sechziger Musikjahre verpasst. Nun ist sie wieder draußen und sucht einen Job. Man schreibt das Jahr 1973 und mithilfe ihres eifrigen Bewährungshelfers kommt Delpha in einem eben gegründeten Detektivbüro unter. Klar, dass da die Probleme nicht lange auf sich warten lassen. Von DIETMAR JACOBSEN

Auf der Suche nach einem Football-Star

Roman | Louisa Luna: Abgetaucht

Mehr als dreißig Jahre ist es inzwischen her, dass der populäre Footballspieler Zeb Williams mitten in einem Spiel auf und davon lief. Gerade sollte das letzte Viertel des Traditionsmatchs zwischen den Universitäten von Berkeley und Stanford vor mehr als 60.000 Zuschauern angepfiffen werden, als der zur Mannschaft von Berkeley gehörende Mann sich den Ball griff und aus dem Stadion sprintete. Seitdem wurde er nur noch einmal gesehen - von einem kurz nach dem Zwischenfall mit der Suche nach dem Sportidol beauftragten Detektiv in der Kleinstadt Ilona in Oregon. Und genau dort hofft Alice Vega, die Spezialistin im Aufspüren verschwundener oder entführter Personen, im Auftrag der Familie einer Ex-Freundin von Williams drei Jahrzehnte später auf Spuren des Vermissten zu stoßen. Und landet in einer von einer ultrarechten Hassgruppe terrorisierten Gegend, in der jeder Tag ihr letzter sein könnte. Von DIETMAR JACOBSEN

Maskuline Maskeraden

Roman | Siri Hustvedt: Die gleißende Welt Ist die Wahrnehmung und Wertung künstlerischen Schaffens von Gender, Rasse, Berühmtheit abhängig? Blockiert versteckter Sexismus im Kulturbetrieb systematisch den Erfolg und Aufstieg von Frauen? Siri Hustvedts neuer Roman ›Die gleißende Welt‹ verquickt diskursverliebt wissenschaftliche Thesen mit einer mehrfach schillernden Handlung. Von INGEBORG JAISER

Das Ungeheuer von Hannover

Roman | Dirk Kurbjuweit: Haarmann

»In Hannover an der Leine,/ Rote Reihe Nummer 8,/ wohnt der Massenmörder Haarmann,/ der schon manchen umgebracht«, heißt es in einem populären Schauerlied aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bezieht sich auf den bekanntesten Serienmörder Deutschlands: Fritz Haarmann. 1879 in der Stadt geboren, in der er 1923/1924 mindestens 24 Morde beging, verurteilte ihn, nachdem man seiner habhaft geworden war, ein Schwurgericht im Dezember 1924 zum Tode. Das Urteil wurde im April des darauffolgenden Jahres vollstreckt. In der Kunst (Literatur, Film, Bildende Kunst, Musik) lebt Haarmann freilich bis heute weiter. Nun hat der gelernte Journalist Dirk Kurbjuweit einen Roman über den »Werwolf von Hannover« geschrieben. Und es gelingt ihm auf faszinierende Weise, den Mörder Haarmann und die mörderische Zeit, in der er lebte, als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Von DIERMAR JACOBSEN