Samuel und Anita

Roman | Isabel Allende: Der Wind kennt meinen Namen

Es kann mehr Fluch als Segen sein, wenn einem Schriftsteller mit dem Debütwerk gleich ein ganz großer Wurf gelingt. Günter Grass musste diese Erfahrung machen, weil er über lange Zeit stets an der Blechtrommel gemessen wurde. Nicht anders ergeht es der inzwischen 81-jährigen Isabel Allende, die mit ihrem Erstling Das Geisterhaus (1982) auch gleich einen Weltbestseller landete. Ihre Bücher haben eine Gesamtauflage von über 73 Millionen erreicht und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Von PETER MOHR

»Ich war auch ein politischer Flüchtling und Einwanderer, daher weiß ich, wie sich Entwurzelung anfühlt«, hatte die seit einigen Jahren in Kalifornien lebende Allende im Vorfeld ihres neuen Romans erklärt, der um ein doppeltes Flüchtlingsschicksal kreist.

Sie erzählt die Lebensgeschichten von Samuel Adler und Aníta Diaz, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten als Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Beide sind Opfer totalitärer Regime, beide müssen sich in fremden Kulturkreisen integrieren, lernen mit Anfeindungen fertig zu werden und sich eine neue Identität erkämpfen.

Da ist einmal der in Wien aufgewachsene, sechsjährige Samuel Adler, Sohn eines angesehenen jüdischen Arztes, der 1938 von seiner verzweifelten Mutter (die drohende Gefahr von Hitler vor Augen) auf einen Kindertransport nach England gegeben wird. »Rudolf war klar, dass auch seine Frau Rachel, die früher so überlegt und tüchtig gewesen war und nie zu Schwarzseherei geneigt hatte, inzwischen wie gelähmt war vor Angst und ihren Alltag nur noch mit Hilfe von Medikamenten bewältigen konnte«, beschreibt Allende die Gefühlslage von Samuels Vater.

Samuel ist allein auf der Reise, ein Kind, von den Eltern getrennt, außer etwas Wäsche und seiner Geige hat er nichts bei sich. Einsamkeit und Sehnsucht nach den Eltern (die später von den Nazis ermordet werden) begleitet ihn qualvoll über viele Jahre. Die letzte Umarmung mit seiner Mutter brennt sich in sein Gedächtnis ein.

Etwa achtzig Jahre später ist der zweite, nicht minder bewegende Handlungsstrang angesiedelt. Die siebenjährige Anita Díaz und ihre Mutter steigen in einen Zug, um der Gewalt in El Salvador zu entkommen und in den USA Zuflucht zu finden. Anita ist blind und wird bei der illegalen Einreise in die USA von ihrer Mutter getrennt. Diese zweite Handlungsebene reicht bis ganz nah an die Gegenwart und thematisiert die rigide und teilweise heftig kritisierte Einwanderungspolitik der Trump-Regierung und ihre umstrittene Entscheidung, Kinder von ihren Eltern zu trennen.

Isabel Allende, Tochter eines chilenischen Diplomaten und Großnichte des ermordeten Staatspräsidenten Salvador Allende, verbrachte Kindheit und Jugend an wechselnden Orten Lateinamerikas. Von ihrem achtzehnten Lebensjahr an arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen. Schon in jungen Jahren entwickelte sie viel Fantasie und politische Gespür. Bei ihrer Arbeit dichtete Allende bei Interviews einiges dazu: »Deshalb wurde ich beauftragt, solche Reportagen zu schreiben, die viel Fantasie verlangten, in denen ich humorvoll sein und etwas übertreiben durfte. Aber seriöse Interviews hat mich die Redaktion nicht mehr machen lassen.«

Gefühle wecken, fantasievolle Figuren entwerfen und sich an politisch-gesellschaftlich relevanten Ereignissen abarbeiten – das war immer das Metier von Isabel Allende. Verlustschmerz, dauerhaftes Fremdheitsgefühl, biografische Wurzellosigkeit und die Omnipräsenz der Angst vor politischer Gewalt prägen dieses Doppelschicksal und führen uns vor Augen, dass die Weltpolitik unbarmherzig Familien zerstört und unschuldige Kinder hinterlässt – damals wie heute.

Isabel Allendes dichterische Phantasie scheint nie zu versiegen, doch stilistisch – vor allem was die Zeichnung der Figuren angeht – hat sie schon lange nicht mehr an die Brillanz ihres Erstlings Das Geisterhaus anknüpfen können. Viele Passagen wirken kolportagehaft und wie aus einem Baukasten zusammengefügt. Auch die Zusammenführung der beiden Handlungsstränge kann nicht überzeugen. Mit ihrem empathischen Furor wird Isabel Allende allerdings weiter die Herzen ihrer Leser erreichen.

Dem Roman voran gestellt sind die bekannten Worte von Antoine de Saint-Exupéry: »Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut.« Ganz sicher bewegt sich Isabel Allende moralisch immer auf der „richtigen“ Seite, künstlerisch schlägt sie aber immer häufiger über die Stränge.  Die siebenjährige Anita Díaz lässt sie sagen: »Es gibt einen Stern, wo die Menschen und die Tiere alle glücklich sind, und er ist besser als der Himmel, weil man nicht sterben muss, um hinzukommen.« Kitsch und Kunst marschieren hier in einem unterhaltsamen Gleichschritt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Isabel Allende: Der Wind kennt meinen Namen
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Berlin: Suhrkamp Verlag 2024
336 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Isabel Allende in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Haarpracht

Nächster Artikel

Ein Freund, ein guter Freund …

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Heiligen der Schattenbibel

Roman | Ian Rankin: Schlafende Hunde Nach seinem Intermezzo bei den Cold Case Units (Mädchengrab, 2013) ist John Rebus im neuen Roman von Ian Rankin zurück an seiner alten Wirkungsstätte. Allein rangmäßig ging es ein Stück bergab mit ihm. Als Detective Sergeant ist er plötzlich seinem einstigen Schützling Siobhan Clarke unterstellt. Doch mit der kommt er klar. Dagegen machen es ihm Dienststellenleiter Page und der von Generalstaatsanwältin Macari auf eine Gruppe von ehemaligen Polizisten angesetzte interne Ermittler Malcolm Fox erheblich schwerer. Denn Rebus war ein Teil jener verschworenen Gemeinschaft, die sich den Namen »Die Heiligen der Schattenbibel« gegeben hatte. Von

Marokkanische Scharade

Roman | Martin Suter: Melody

Verunglückt, ermordet, verschleppt oder einfach nur untergetaucht? Welches Schicksal ist der vor 40 Jahren spurlos verschwundenen jungen Frau namens Melody widerfahren? Und wie weit ist den smarten Geschichten ihres ehemaligen Verlobten zu trauen? In der vornehmen Zürcher Upper Class beginnt Martin Suters neuer Roman, der den Leser gleich mehrfach hinters Licht führen wird. Von INGEBORG JAISER

Ich gehe, daher bin ich

Roman | Mike Markart: Der dunkle Bellaviri

Welcher Schriftsteller wünscht sich nicht einmal eine Zeit lang als Stipendiat in einer römischen Villa zu leben und sich ganz dem kreativen Schaffen zu widmen. In Gärten zu flanieren, an Brunnen zu sitzen und den Caffé am Morgen in einer kleinen Bar zu nehmen. Der Musenkuss scheint hier doch obligatorisch. Dass dabei trotz allem nicht immer nur künstlerischer Müßiggang herrscht, kann Mike Markart in seinem neuesten Italienroman Der dunkle Bellaviri bestätigen. Der Grazer Autor zeichnet ein Italien abseits der hell erleuchteten Fassaden, sein Blick dringt tief ins Innere des schöpferischen Ichs. Empfohlen von HUBERT HOLZMANN

Von oben betrachtet

Roman | Max Annas: Der Hochsitz

Nach zwei Romanen über die Geraer Morduntersuchungskommission – Nummer 3 ist in Arbeit – nimmt der Autor seine Leser diesmal mit in die Eifel. Dort leben in einem kleinen Dorf nahe der luxemburgischen Grenze die 11-jährigen Mädchen Sanne und Ulrike. Man schreibt das Jahr 1978. Es sind Osterferien. Die Fußball-WM in Argentinien steht bevor. Aber noch sind bis dahin knapp zwei Monate Zeit. Dass es aufregende Monate werden, ahnen Annas' Heldinnen, als sie Zeuginnen eines Mordes werden und unversehens mitten in eine ebenso spannende wie politisch aufgeladene Geschichte geraten. Von DIETMAR JACOBSEN

Big trouble in little Lawrence

Roman | Sara Paretsky: Altlasten

V.I. Warshawski heißt die Detektivin, die die US-amerikanische Autorin Sara Paretsky seit 1983 in bisher 19 Romanen auftreten ließ. Altlasten ist ihr 18. Abenteuer. Diesmal zieht es die Großstädterin in die Provinz des Mittleren Westens. Von DIETMAR JACOBSEN