Ganz schön viele Seiten, ganz schön wenige Worte, aber eine urkomische Geschichte. Spaßig, vielleicht aber auch mit Tiefgang, wie immer der Blickwinkel ausfällt. Auf jeden Fall ein großes Abenteuer – meint BARBARA WEGMANN.
»Hallo. Was tust du?« frage ein Gürteltier die in einiger Entfernung stehende Schildkröte. »Ich stehe an meinem Lieblingsplatz. Komm. Stell dich mit dazu.« Das Gürteltier folgt der Einladung, äußert aber schnell seinen Missmut, es habe ein ungutes Gefühl, dort drüben sei ein anderer Platz, es werde sehen, ob man dort ein besseres Gefühl habe. Ein Hin und Her, mal hier, mal da, man teilt sich die Befindlichkeiten mit, hört sich aber nicht, weil man zu weit auseinander steht, geht wieder zurück, eine Einigung gibt es nicht, dafür fällt plötzlich ein riesiger Felsbrocken »aus heiterem Himmel«. Genau dort, wo die beiden nicht stehen. Glück gehabt.
»Der Fels«, »Der Sturz«, »Sich die Zukunft vorstellen«, »Der Sonnenuntergang« und »Kein Platz mehr«, das sind die fünf Kapitel des Buches, die eine hinreißende Geschichte ergeben. Dialoge, die minimalistischer nicht sein könnten, knapp, kurz und irgendwie urkomisch, jedes Tier bekommt eine eigene Text-Farbe. Die Schrift sehr groß, prima also für Leseanfänger geeignet! Wenig Text also auf 96 Seiten, aber Dialoge, die im Kopf viel anrichten, die spontanes Lachen erzeugen, die viel Spannung aufkommen lassen durch die kleinen tierischen Protagonisten, die offenbar so etwas wie Ahnungen haben, wo ein guter Platz ist, ein Platz, an dem kein Felsbrocken einschlägt.
Die Schildkröte klettert auf den Felsbrocken, fällt herunter und bleibt auf dem Rücken liegen, leugnet dem Gürteltier gegenüber aber, dass etwas passiert sei. »Bist du da runtergefallen?«, fragt es. »Nein« ist die kommentarlose Antwort. Ob es Hilfe brauche. Nein. Und so bleibt die sture Schildkröte auf dem Rücken liegen, während das Gürteltier ein »Nickerchen« macht.
Der 40 Jahre alte Kanadier Jon Klassen hat schon zweimal den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten, geradezu ein Genie ist der Animationskünstler, Illustrator und Schriftsteller, wenn es um viel Inhalt mit wenigen Worten geht, wenn es um große Bilder mit wenigen Farben geht, wenn Text und Bild mit so viel Zurückhaltung so viel erzählen. Da fragt man sich zunächst, was reden die da? Wieso muss man sich so lange über die Frage unterhalten, wo ein Lieblingsplatz ist, ein besserer Platz? Völlig absurd erscheinen die Gespräche, und tatsächlich erinnern die Dialoge an Absurdes Theater, reduzierte Sprache, reduzierte Schauplätze, Sinnlosigkeit. Und dennoch: ein großes Vergnügen, mit ganz schön viel Sinn dahinter.
Da ist nicht nur Spaß im Spiel: In der kargen Landschaft, in der Schildkröte und Gürteltier sich befinden, in der nichts wächst außer zwei winzigen Blümchen, schließen sie die Augen und stellen sich die Zukunft vor. Neue Pflanzen und Bäume, vielleicht sogar ein ganzer Wald würden hier einmal wachsen, das sei schön, so sagen sie. Aber dann taucht ein Ungeheuer auf in Form eines riesigen Auges mit Beinen, das offenbar zerstörerische Kräfte hat. Und wieder ist es eine Ahnung, die der Schildkröte vielleicht sogar das Leben rettet.
Nicht zuletzt zeigt das Buch, das durch Illustration, Geschichte und Text tatsächlich sehr beeindruckend ist, wie wichtig Freundschaften sind, wie wichtig Gespräche sind, das Zuhören, all das, was hier nicht passiert. Hier in der Geschichte tauscht man nur knappe Mitteilungen aus, emotionslos, ohne Empathie, ohne Tiefgang, mit Distanz. Daraus kann man viel lernen!
Aber die Geschichte zeigt auch, wie wichtig das eigene Gefühl ist, die Ahnung, der Instinkt, das Bauchgefühl. In allem stehen die beiden Tiere, zu denen sich ab und zu auch eine Schlange gesellt, für unser menschliches Miteinander, und da bietet sich dann noch nach der Lektüre eine ganze Menge Gesprächsstoff.
Titelangaben
Jon Klassen: Aus heiterem Himmel
(The Rock from the Sky, 2021). Übersetzt von Thomas Bodmer
Zürich: NordSüd Verlag 2021
18 Euro, 96 Seiten
Bilderbuch ab 4 Jahren
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