Dieses Buch ist ein Abenteuer: nicht nur, dass es von einer außergewöhnlichen Doktorarbeit erzählt, wer schließlich würde schon auf die Idee kommen, über Nebelhörner zu promovieren. Das Thema spricht uns alle an. Denn genau das, worum es geht, kennen wir alle, es sitzt irgendwo ganz im Inneren, in Erinnerungen und Empfindungen. Nie war ein Nebelhorn so attraktiv wie auf diesen 304 Seiten, meint BARBARA WEGMANN.
Es begann mit der Arbeit für ein Musikmagazin, Underground und experimentelle Musik. Eine Platte sollte Jennifer Lucy Allan besprechen. Und während sie »zischelnden Becken und nervösen Streichern lauschte, die wie Wind über eine Takelage streichen und wie das Dümpeln großer Schiffsrümpfe klingen«, da kam sie, die Vision von Nebelhorn-Klängen. Und, es klingt abenteuerlich und unwahrscheinlich zugleich: die Autorin »verabschiedete sich als Musikjournalistin und wurde eine Nebelhorn-Besessene.«
Eine Historikerin des Klanges sei sie geworden und Zielscheibe des Spotts vieler Freunde, so gesteht sie. Aber die Besessenheit hat sich mehr als gelohnt. ›Das Lied des Nebelhorns‹ ist ein derart aus dem Rahmen fallendes Buch, ein alles andere als gewöhnliches oder alltägliches Buch geworden, dass man es begeistert gerne zweimal liest, von dem man sich betören und entführen lässt, an Küsten und Klippen, Buchten und Häfen und natürlich Leuchttürme. Und zwischen allen Zeilen hört man ihn ganz deutlich, diesen dumpfen, mystischen, warnenden Klang, mit jener leichten Melancholie unterlegt, jenem Fernweh, dass ein Nebelhorn in unser Innerstes dringen lässt: 120 Dezibel, »so laut wie eine Rockgruppe, die ihre Verstärker bis zum Anschlag aufdreht.« Einfach ohrenbetäubend. Aber: »Was ich im Klang des Nebelhorns gehört habe, war nicht nur die ohrenbetäubende Musik, sondern das Potential, Geschichte, Kultur, Industrie, Landschaft und, dies vor allem, Menschen miteinander zu verbinden.«
Herausgekommen ist ein verblüffend attraktives Buch, basierend auf einer thematisch seltenen Doktorarbeit. Geschrieben von einer jungen Autorin, Schriftstellerin und Radiomoderatorin. Eine Frau, die mit breit gefächerter Neugierde, mit Besessenheit und Biss, aber auch viel, viel Freude an Geschichte, Industrie, alter Kultur an die Sache heranging. Sehr souverän verbindet sie alle möglichen Ebenen des Themas fast spielerisch miteinander, jongliert mit verschiedenen Zeitebenen, springt aus tiefster Geschichte in die heutige Zeit. »Eine Schiffsbesatzung ist heutzutage gänzlich anderen Geräuschen ausgesetzt, sei es dem weißen Rauschen im Maschinenraum, sei es dem Piepsen, das aus den Monitoren dringt. Der Klang des Nebelhorns ist in dieser Welt nicht mehr vorgesehen.«
Ein Stück Industriegeschichte einerseits, eine Erfindung aus der Zeit um 1850, ein Stück Sicherung an Küsten und Klippen in Nebel und Nacht, eine Navigationshilfe, die Schiffen mitteilte, wo sie sich befanden. Als die moderne Technik, die Elektronik die alten Nebelhörner überflüssig machten, »wurden viele Menschen von gänzlich unerwarteten Gefühlen überwältigt. Hatten sie bislang nicht einen Gedanken an die Nebelhörner verschwendet, so merkten sie nun, wie sehr sie daran hingen. Und die wenigsten wollten sich von einem Klang trennen, mit dem sie aufgewachsen waren.«
Emotionale Momente einerseits, technische Raffinessen und Entwicklungen andererseits, Nebelhörner in den Ländern der Welt. Jennifer Lucy Allan schöpft aus der vollen Klaviatur des Themas und sie präsentiert eine absolut bemerkenswerte Fülle an Recherche, Fakten, Mythen, an Musik und Klängen. Sie sammelt Quellen, führt Gespräche, geht auf Spurensuche. Den Nebel, und gäbe es ihn nicht, gäbe es keine Nebelhörner, seziert und erklärt sie wie Fräulein Smilla den Schnee, kein Detail lässt sie unerwähnt, und an keiner Stelle wird es langweilig.
Über 300 Seiten hinweg saugt man all diese breite und tiefgehende Recherche auf, lässt sich ein auf ein technisches und kulturelles Abenteuer und hört es immer wieder zwischen Zeilen und Kapitel diesen dumpfen, Kilometer weit über das Meer reichenden Ton. Ein Instrument mit einem ganz besonderen Klang, besonderem Flair und einer besonderen Geschichte, nicht selten ja auch in Geister- und Kriminalgeschichten.
»Noch sind die alten Nebelhörner nicht tot, aber sie leben auch nicht mehr richtig. Eines dieser Exemplare zu hören gleicht dem Erlebnis, einem Vogel zu begegnen, der einer aussterbenden Spezies angehört. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.« Und am besten, es zieht dann auch noch Nebel auf und man verliert im Lesesessel ein wenig die Orientierung.
Titelangaben
Jennifer Lucy Allan: Das Lied des Nebelhorns
Eine Klang- und Kulturgeschichte
Mare Verlag
304 Seiten, 24 Euro
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