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Nur im Kopf gibt es keine Grenzen

Sachbuch | Delphine Papin/Bruno Tertrais: Atlas der Unordnung

Zurzeit machen aktuelle Geschehnisse in gar nicht so weiter Entfernung schmerzhaft klar: Grenzen sind alles andere als festgeschriebene Linien. Territorien, Länder werden verteidigt, abgesichert, überfallen, besetzt, Grenzen werden wachsam beobachtet, zur Not verteidigt, bei Bedarf verschoben, manchmal aber fallen Grenzen auch. BARBARA WEGMANN hat in diesem Buch mit seiner beeindruckenden Informationsfülle geblättert.

Das bild zeigt eine unordentlich gefaltete WeltkarteDas Buch beginnt mit dem Wort »Grenze«, seiner Bedeutung, den Gedanken rundherum, den Sprichwörtern, den Weisheiten. Und genau das wirkt wie ein Gedanken-Schlüssel für das wirklich spannende, folgende Buch. Ein Atlas, der informiert, der in die Geschichte zurückschaut und eintaucht, der Visionen hat. 60 Karten, gespickt mit Grafiken, Informationen, Statistiken, übersichtlich, verständlich und eindrucksvoll in Darstellung und Präsentation. Dazu ausführliche Hintergrundtexte.

»Jede Grenze, wie auch jedes Medikament, ist Heilmittel und Gift zugleich. Und daher eine Frage der Dosierung.« schreibt der französische Journalist und Philosoph Régis Dubray. Darüber kann man nachdenken und man kann abwägen, ob man Donald Trumps Überzeugung teilt, dass »Menschen Grenzen sehen wollen«, oder ob man es eher mit dem Begründer der Anthropogeographie Friedrich Ratzel hält und Grenzen als »die Narben der Geschichte« ansieht. Ist ein »Land ohne Grenzen ein Brachland«? Bringen »gute Zäune auch gute Nachbarn«? Wieweit wird Freiheit eingegrenzt? »Für jede 50 Fuß hohe Mauer gibt es eine 51 Fuß hohe Leiter«.

Wie auch immer, wir leben mit Grenzen, rund um unser Zuhause, innerhalb städtischer Grenzen, Länder- und Nationengrenzen. »Grenzen stecken voller Geschichte. Sie berichten von Kriegen und Diplomatie, natürlich auch von der Kolonialzeit und gelegentlich auch von alten Animositäten zwischen Kulturen. Ihre Verläufe sind stets im Wandel.« Und die Streitigkeiten um Grenzverläufe, sie sind ein ewig aktuelles und leidvolles, oft absurdes Thema weltweit.

In vier große Kapitel gliedert das Buch ein vielleicht zunächst so unerwartet vielseitiges Thema, das aber von Seite zu Seite nicht nur immer stärker fesselt, sondern klar macht, wie unausweichlich wir mit diesem Thema Tag für Tag leben, wie Grenzen unser Leben bestimmen. »Grenze als Vermächtnisse« bildet den Auftakt des Buches: Die Gegenüberstellung von »Europas alten Trennlinien« fragt, wie sich Kulturgrenzen, Religionsgrenzen und politische Grenzen gegenseitig beeinflussen. Wie wird Europa von physischen Grenzen umrundet?

Ozeane, Meere, Ströme und Flüsse sind unter den natürlichen Grenzen am häufigsten zu finden … Auch ihr Konfliktpotenzial ist nicht zu unterschätzen. Bestes Beispiel: die Antarktis. »Eine Forschern vorbehaltene Eiswüste … die immer mehr Interessenten anlockt.« Nicht anders wird es bald im Bereich der Arktis aussehen, Bodenschätze- auch wenn sie noch verborgen sind- haben auf Nationen einen großen Reiz.

Eine beeindruckende Rundum-Recherche ist den beiden Autoren gelungen, Delphine Papin, Leiterin der Abteilung Infografik der Zeitung Le Monde und dem Politikwissenschaftler Bruno Tertrais.
So viele Informationen, so viele Fakten, mit denen man sich schnell beginnt auseinanderzusetzen. Wunderbar plakative mit verständlicher Legende ausgestattete Grafiken, wechseln sich mit intensiven Texten rund um das Thema ab. Viel Bekanntes, viel Unbekanntes, viele nachdenklich stimmende Erkenntnisse, ein großes Potenzial, was Lernen und Erfahren in diesem ganz besonderen Atlas angeht.
Zwischendurch, quasi als Unterhaltungs-Intermezzo, zum Beispiel Informationen zu rekordverdächtigen Grenzen: Die Grenze rund um Andorra, umrahmt von Frankreich und Spanien, es gibt sie seit 1278. Hätten sie gewusst, dass die Grenze zwischen Nepal und China auf 8848 Meter Höhe auf dem Mount Everest ihren Höhepunkt findet? Oder, dass die Grenze zwischen Pakistan und Indien aufgrund der Überwachungsanlagen die »einzige aus dem All sichtbare Grenze ist«?

»Atlas der Unordnung« – ein absolut spannendes, ausgefallenes Buch, das nicht nur von ganz schön viel weltweiter Unordnung berichtet, sondern, das auch schnell Fragen aufwirft, zu Diskussionen anregt, das auch nachdenklich macht. Fördern Grenzen den Frieden, so fragen die Autoren, oder begünstigen sie sogar Kriege? Überall auf der Welt bringen Konflikte um Grenzen unendliches Leid und Tod über Bewohner, zerstören Territorialkämpfe soziale Gefüge und die Heimat von so vielen Menschen.

Andere Grenzen und Grenzschließungen, jetzt beispielsweise während der Covid- 19 Pandemie – sie haben eine »prophylaktische Funktion« und »galten schon früher als Instrumente der Gesundheitskontrolle.«

Letztlich wäre da ein »augenzwinkernder Dauerbrenner« in Sachen Grenzkonflikte, kaum zu glauben: » … der Streit zwischen Franzosen und Italienern um den Gipfel des Mont Blanc.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Delphine Papin/Bruno Tertrais: Atlas der Unordnung
60 Karten über sichtbare, unsichtbare und sonderbare Grenzen
Darmstadt: WBG Theiss Verlag 2022
176 Seiten, 28 Euro
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