/

Mit ganzer Leidenschaft

Kulturbuch | Jean-Philippe Toussaint: Fußball

Zugegeben, zuzeiten der Europameisterschaft sind wir übersättigt von Fußball, er zeigt sich unverblümt als ein kalkuliertes Geschäft, eingebettet zwischen Terrorängsten und Kontrollwahn. Doch es gibt da ein Buch, ich möchte Ihnen das nicht vorenthalten, das weder mit Hooligans zu tun hat noch mit Sicherheitsvorkehrungen, auch nicht mit Viererketten oder mit Umschalten und nicht mit Trainern, die keine Kinderstube kennen. Von WOLF SENFF

Jean Philippe Toussaint FußballJean-Philippe Toussaint ist ein höchst anerkannter und erfolgreicher belgischer Autor, der u.a. einen Band mit Essays über »Die Dringlichkeit und die Geduld« veröffentlicht hat, und man ahnt schon, dass dieser Titel unmissverständlich auf eine innige Beziehung zum Fußball vorausweist.

Eine abenteuerliche Beziehung

So ist es denn auch, und in ›Fußball‹ breitet er diese Beziehung in einem liebenswerten autobiographischen Werk vor uns aus. Er beginnt mit Anekdoten aus seiner aktiven Zeit auf dem Bolzplatz: »Ich kann Fußball nicht von meinen Träumen und meiner Kindheit trennen«, und wir erfahren, dass er schon bald dem Fußball in diverse Stadien hinterherreiste – eine leidenschaftliche Beziehung also und wie jede leidenschaftliche Beziehung ist sie mit Enttäuschungen verbunden, etwa als ihm zur Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland die bestellten Karten korrekt zugesagt, aber nie ausgeliefert wurden.

Sehr viel intensiver gestaltete sich diese Beziehung in Japan und Korea während der Weltmeisterschaft 2002, wo er seine Tage einen Monat lang zwischen Vorträgen an der Universität und den Spielen organisierte, lückenlose Terminierungen, Aufenthalte in vollen Stadien und leeren Cafés; der Leser folgt einer höchst abenteuerlichen Etappe, er begleitet Toussaint bis nach Kyoto, das »niemals wirklich fußballbegeistert« war, und dort seine ernüchterte Einsicht: »Was bedeutet im Grunde schon der Fußball« – die Höhen und Tiefen einer Leidenschaft.

Live muss sein

Das Finale mit Pierluigi Collina als Schiedsrichter erlebt Toussaint im Stadion in Yokohama. Nicht nur hier stößt er auf frappierende kulturelle Unterschiede, und uns wird tatsächlich einmal glaubhaft vorgeführt, dass Fußball nicht allein völkerverbindend wirkt, sondern wie selbstverständlich die intellektuelle Kultur mit dem eher pragmatisch orientierten Leistungssport verknüpft. So haben wir uns das immer vorgestellt, und Toussaint gelingt diese Darstellung ohne alle Eitelkeit und ohne pompöses Getue – man muss das hervorheben, weil es leider viele Gegenbeispiele gibt.

Ein i-Tüpfelchen setzt er noch, indem er erklärt, weshalb der live-Charakter des Fußballspiels, die Echtzeit, dazugehört und den Fußball vom üblichen TV-Programm unterscheidet. Oder sehen wir uns volle neunzig Minuten an, wenn Resultat und Torfolge bekannt sind? Wohl eher nicht. Fußball ist »verderbliche Nahrung, sein Verfallsdatum setzt unmittelbar ein«. Die leidenschaftliche Beziehung entsteht aus dieser Unmittelbarkeit des Erlebens, gern vor dem Bildschirm, besser noch im Stadion.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Jean-Philippe Toussaint: Fußball
(Football, Paris 2015) aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2016
128 Seiten, 17,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Nächster Artikel

Es reicht!

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Pilgern durch Europa

Kulturbuch | Die schönsten Pilgerrouten Europas

Man muss nicht gläubig sein, um zu pilgern, aber man sollte auf jeden Fall die Ruhe suchen wollen, die Natur, die innere Stimme. Mit Pilgerrouten verbindet man meist spontan den berühmten Jakobsweg, aber: es gibt viele weitere Routen in ganz Europa, Routen, die man zu Fuß, pilgernd eben, entdecken kann. BARBARA WEGMANN hat sich einige Strecken, zumindest im Buch, angeschaut.

Unser großes, weißes, mittleres Meer

Kulturbuch | David Abulafia: Das Mittelmeer Traumziel bleicher Nordmenschen, Sehnsuchtsort klassischer Bildungsbürger – Wiege der Kultur plus Demokratie, ganz zu schweigen von guter Küche, quecksilbrigem Geist und kreativem Müßiggang – und Fußpunkt der drei großen monotheistischen Religionen: das Mittelmeer. Soweit der Blick aus der Landrattenperspektive. Wer sich aufs Wasser hinaus begibt, merkt schnell: Ein sanftes Binnenmeer ist das nicht. Es ist sprunghaft, tückisch, gewalttätig. Es brodelt, klimatisch wie politisch, und seit einiger Zeit wieder sehr augenfällig – Lampedusa, Gaza, Arabischer Frühling. Von PIEKE BIERMANN

Subtilitäten & Tricks des Realismus

Kulturbuch | James Wood: Die Kunst des Erzählens Daniel Kehlmann, dem wir wohl die Möglichkeit zur Bekanntschaft mit James Woods ›Die Kunst des Erzählens‹ verdanken, schreibt in seinem Vorwort zu der nicht immer gelungenen Übersetzung Imma Klemms, er habe das in New York gekaufte Buch verschlungen & gleich noch einmal gelesen. Mir ging es genauso jetzt mit der deutschen Ausgabe & ich bin sicher, ich werde noch öfters zu den 12 Kapiteln & ihren vielen Untertiteln zurückkehren, mit denen der in England geborene, jetzt in den USA lebende & beim ›New Yorker‹ publizierende Literaturkritiker seine Überlegungen zur Kunst des Erzählens

Kann sein sie hat Kinder, hat Enkel

Kulturbuch | Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode Man fragt sich während der Lektüre mehrfach, was für ein Buch man da in den Händen hält. »Geheimnis der Mode«? Nein, es wird nichts Geheimnisvolles ausgebreitet, und zum Schluss wird kein Geheimnis entschlüsselt. Von vornherein bestehen für Barbara Vinken keine Zweifel daran, dass Mode der Abgrenzung der Geschlechter dient. Die Arbeitsweise der Autorin analytisch zu nennen, wäre geschmeichelt. Von WOLF SENFF

Lesen lindert Leiden

Kulturbuch | Bünger / Berthoud / Elderkin: Die Romantherapie Die Romantherapie kommt in keiner Heilmittelverordnung vor. Und dennoch kennen Traudl Bünger, Ella Berthoud und Susan Elderkin ein Buch für jedes Zipperlein und jeden Schmerz, sei es Schlaflosigkeit, Schnarchen oder Schluckauf. Auch INGEBORG JAISER ist vom therapeutischen Effekt überzeugt.