Kulturbuch | Alma, Jamila, Lara-Luna: Wie wir Schule machen. Lernen, wie es uns gefällt
›Das Schulsystem muss reformiert werden‹, ist ein oft gehörter Ausspruch, bei dem alle nicken und für dessen Umsetzung überraschenderweise auch viel getan wird. 2008 startete ein Pilotprojekt des Berliner Senats zur sogenannten Gemeinschaftsschule, ein neues System des gemeinsamen Lernens bei individueller Förderung, mit Lerninhalten, die neben der kognitiven auch z.B. die Schulung von emotionaler Intelligenz umfassen. Das alles, um Kinder von heute auf die Herausforderungen vorzubereiten, die das 21. Jahrhundert ihnen stellt. Drei Schülerinnen – Alma de Zárate, Jamila Tressel, Lara-Luna Ehrenschneider – erzählen in Zusammenarbeit mit Uli Hauser in Wie wir Schule machen. Lernen, wie es uns gefällt von ihren Erfahrungen. Von einer Schule für die neue Zeit. Von MAGALI HEISSLER
Gern zur Schule gehen, täglich, nicht nur zum Unterricht in Fächern, die man mag. Selbst bestimmen, was man lernt, ebenfalls täglich, ein vertrauensvolles Verhältnis zu Lehrerinnen und Lehrern haben und keine Noten bekommen für Leistungen, sondern eine ausführliche, schriftliche Beurteilung samt nützlichen Hinweisen zum Weiterlernen – das klingt für viele rundum utopisch. Doch so etwas gibt es und dahinter steckt eine Menge Arbeit aller Beteiligten. Das wird in diesem nicht einmal zweihundert Seiten umfassenden Buch ganz klar. Im Vordergrund steht die Beschreibung der Schule durch drei Schülerinnen, vierzehn, fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Ihre Begeisterung für das, was sie erleben und mitgestalten, trägt das Ganze. Zum Text wurde es in Zusammenarbeit mit Uli Hauser, dessen Handschrift als Berufsjournalist durchaus spürbar ist. Die Schule, die als Beispiel für das Projekt Gemeinschaftsschule vorgestellt wird, ist die seit 2007 arbeitende private Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ).
Sehr selbstbewusst erzählen die Mädchen zunächst von ihrer Vorstellung von Lernen. Wer fürchtet, dass es nach dem provokant formulierten Untertitel um eine Art Freizeitgestaltung geht, merkt schon nach wenigen Sätzen, wie sehr sie sich irrt. Lernen in einer Gemeinschaftsschule ist höchst anspruchsvoll. Der Unterschied zu herkömmlichen Schulen liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler diesen Ansprüchen nicht unkontrolliert ausgesetzt sind. Sie haben einen weitgesteckten Rahmen, innerhalb dessen sie sich frei bewegen können. Doch auch dafür gibt es Regeln. Diese sind, anders als in anderen Schulen, bestimmt von Eigenverantwortung und einem Miteinander. Anerkennung, Wertschätzung, Lernen und Agieren in heterogenen Gruppen sind Lerninhalte, ebenso wie Englisch und Mathematik, Sport, Deutsch und Religion.
Kapitän sein
Bausteine nennen die Schülerinnen die Lerneinheiten, die in den Kernfächern nacheinander abzuarbeiten sind, von Beginn bis zum Ende des Schuljahrs. Jedes Kind bestimmt selbst, was es an welchem Tag belegen und bearbeiten möchte. Das schließt Fremdbestimmung weitgehend aus und lässt die Schülerinnen und Schüler verstehen, was sie tun. Die klassische Schülerinnenfrage ›Warum muss ich diese Formel, diese Grammatik lernen, was nützt mir das?‹ entfällt bzw. beantwortet sich von selbst. ›Für einen selbst‹ ist die erste Antwort, weil das, was ich gelernt habe, ein Baustein für Wissen, das ich einsetzen kann für mich, nicht, um eine Note zu bekommen, die als tote Ziffer vermerkt wird und die oft genug bedeutet, dass das dafür Gelernte gleich wieder vergessen wird.
In der Gemeinschaftsschule wird das erworbene Wissen oft genug gleich weitergegeben. Hat man eine Frage bei der Arbeit an einem Baustein, so gilt etwa die Regel, dass man sich damit zunächst eine Mitschülerin wendet. Ältere und Jüngere lernen gemeinsam in einem Raum. Lässt sich die Frage nicht gleich lösen, zieht man das Buch zurate. Erst danach, wenn gar nichts mehr geht, wendet man sich an Lehrerin oder Lehrer. Dass man dadurch zugleich lernt, Probleme eigenständig anzugehen, zu unterscheiden, wie weit die eigenen Kräfte reichen und wann es sinnvoll ist, Beistand zu holen, versteht sich von allein. Man ist verantwortlich, für sich selbst. ›Kapitän sein‹ heißt das, fürs eigene Lernen und das Zusammenleben im Schulalltag. Kontrolliert wird das durch das zu einem Kapitän passende sogenannte Logbuch. Ohne das sauber geführte Logbuch geht gar nichts. Ein Beispiel-Logbuch kann man auf der Website der Schule ansehen und bei der Lektüre wird man staunen, wie streng die Regeln sind, vom Lernen bis zum Verhalten und Benehmen. Doch die Schülerinnen wissen genau, warum sie wichtig sind, und eben deswegen bemühen sie sich, sie einzuhalten.
Zeigen, dass es anders geht
Auch den Eltern wird einiges abverlangt, etwa, wenn ihre Kinder sich ab einem gewissen Alter sogenannten Herausforderungen stellen und sich in kleinen Gruppen mit nur der minimalsten Betreuung durch Erwachsene auf längere Wanderungen begeben, in Mittelalterdörfern leben oder auf einem Reiterhof arbeiten. Entstehende Probleme müssen die Kinder lösen, egal, ob es um fehlende Wanderkarten, einen verstauchten Fuß oder die Frage geht, wo man Trinkwasser herbekommt. Lehrerinnen und Lehrer bis hin zur Schulleiterin müssen damit fertig werden, dass sie weder die allzeit Klugen sind noch die alleinige Kontrolle haben. Es geht um ein Miteinander, ohne die gewohnten Hierarchien. Dass auch ein Lehrer in der Klassenversammlung warten muss, bis er sprechen darf, gehört dazu. Eine Elternvertreterin, eine Mitbegründerin der Schule und die Schulleiterin, Margarete Rasfeld, kommen im Buch zu Wort und ergänzen auf ihre Art, was die drei Mädchen berichten.
Was in der Schule geübt wird, wird auch nach außen getragen. Das Miteinander, das Selbstbewusstsein, die Fähigkeit Konflikte zu regeln, Heterogenes zusammenzubringen, neugierig sein auf Neues und Erfahrungen zu machen und gleich weiterzuverwerten. Das spüren andere Schulen und Kindergärten, in denen die Schülerinnen und Schüler der ESBZ Projekttage machen, das spürt aber auch eine wachsende Öffentlichkeit. Die Schule steht Interessierten offen, es gibt Besuchstage, an denen ungehemmt Fragen gestellt werden dürfen. Über 20.000 Besucherinnen und Besucher wurden allein 2013 in Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der ESBZ erreicht.
Wie schön Schule sein kann
Auch die Wirtschaft interessiert sich inzwischen für diese Art Nachwuchs. Das Ganze werbewirksam in die Öffentlichkeit zu bringen geht auf eine Idee des Mitautors Uli Hauser zurück, auch davon wird im Buch ausführlich erzählt. Vertreter von Unternehmen, darunter die Deutsche Bahn, berichten von ihren Eindrücken. Da sieht die Zukunft dann ein bisschen sehr rosig aus, aber in der Werbung ist vieles erlaubt. Wirklich einschätzen kann man das Projekt ›Gesamtschule‹ nur zusammen mit Erfahrungen aus anderen Schulen, gerade auch von nicht religionsgebundenen Institutionen.
Am Ende gibt es einen Fragebogen für Schülerinnen und Schüler, denn sie sind das wichtigste Publikum dieses Buchs. Sie geht das alles direkt an. Gefragt wird nach ihren Meinungen zu ihrer Schulsituation. Natürlich mit dem Ziel, dass sie nach der Lektüre verstanden haben, wie schön Schule sein kann. Nun müssen sie es nur noch tun.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Alma de Zárate, Jamila Tressel, Lara-Luna Ehrenschneider in Zusammenarbeit mit Uli Hauser: Wie wir Schule machen. Lernen, wie es uns gefällt
München: Knaus 2014
190 Seiten. 19,99 Euro
Reinschauen
Evangelische Schule Berlin Zentrum
Online-Fragebogen (auf stern.de)
Rufer in der Wüste – Viola Stocker zu Remo H. Largo: Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft?