//

Nietzsches italienische Rettung

Kulturbuch | Zwei neue Bücher über Leben und Werk des unzeitgemäßen Philosophen

Im Herbst 1876 reiste Friedrich Nietzsche für sieben Monate nach Sorrent in Italien, eingeladen von der Schriftstellerin und Mäzenin Malwida von Meysenbug. Ihn begleiteten der Philosoph Paul Rée und ein junger Student namens Alfred Brenner. Auch Richard und Cosima Wagner trafen sich 1876 im italienischen Sorrent mit Nietzsche. Das idyllische Küstenstädtchen sollte zum Schauplatz ihrer letzten Begegnung werden und darüber hinaus zu einem Ort, der über die Erfüllung von Lebensträumen entscheiden sollte. Von DIETER KALTWASSER

Das Buchcover zeigt die Zeichnung eines Zitronenbaums, der Früchte trägt.Der Debütroman ›Tage in Sorrent‹ der Geschwister Andrea und Dirk Liesemer erzählt auch vom Ende dieser Freundschaft. Die Bühne, auf der sich die Begegnung Nietzsches und Wagners abspielte, bilden zwei Hotels der Stadt. Das Grandhotel Vittoria direkt an der Steilküste, in dem Richard und Cosima Wagner vom 5. Oktober bis zum 7. November 1876 residierten, und die Villa Rubinacci, in der Nietzsche und seine Begleiter vom 26. Oktober bis Anfang Mai 1877 logierten.
In Italien angekommen geht die Reise von Genua auf dem Mittelmeer nach Sorrent weiter: »Das Dampfschiff schwankt auf südlichem Kurs vorwärts, umgeben vom Lichtertanz und von schaumgekrönten Wellen, die in einem Moment der Ruhe auslaufen, um sich erneut aufzutürmen. Jede Welle trägt Nietzsche fort, dem Neuanfang entgegen, an den Golf von Neapel, nach Sorrent.«

Die Küstenstadt im Südwesten Italiens an der Bucht von Neapel auf der Halbinsel Sorrent: Sie liegt hoch auf den Klippen, die die Stadt vom Hafen trennen, und ist bekannt für den weiten Blick auf das Meer. Malwida von Meysenbug hatte gute Gründe, den von heftigen Migräneattacken gepeinigten, beinahe halb erblindeten und seiner Professur an der Universität Basel überdrüssig gewordenen Nietzsche einzuladen. In Italien soll er seine Gesundheit wiederherstellen und an neuen Werken arbeiten. Die Freundin sehnte sich nach Gesellschaft und geistigem Austausch. Sie wollte mit Nietzsche die Gründung einer »freien Akademie« für »junge Geister« vorantreiben. Der Roman erzählt auch die Geschichte des Scheiterns dieser hochfliegenden Pläne.

Nietzsche will in den südlichen Gefilden »seine Ruhe suchen, die milde Luft genießen, Spaziergänge unternehmen«. Also wandert er in Begleitung von Albert Brenner und Paul Rée am Strand und durch das Land, wo die Zitronen blühen: »In Sorrent wird alles besser werden. Wärme und Ruhe und sanftes Licht, die Nähe zur bewunderten antiken Kultur sollten ihm ausreichend Linderung verschaffen […] und die Unbeschwertheit seiner Kindheit zurückbringen.« Es sind befreiende und schöne Tage am Strand mit seinen Freunden, die Andrea und Dirk Liesemer in ihrem atmosphärisch dichten und überaus lesenswerten Roman schildern: »Nietzsche springt auf und will den Studenten fangen, doch der rettet sich in die Fluten. Da hat sich scho Rée genähert, packt Nietzsche bei der Hand und zieht ihn hinter sich ins Meer. Die drei Männer balgen, lachen, tauchen sich gegenseitig unter.«

Als Nietzsche am Golf von Neapel Wagner als religiösen Eiferer erlebt, ist er geschockt. Es kommt zum Bruch. Dazu hatte schon sein Besuch Bayreuths Monate zuvor das Seinige getan; Wagners Hang zum Luxus erregte Nietzsches Widerwillen. Im Roman prallen zudem die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Protagonisten aufeinander und am Ende gehen alle ihrer eigenen Wege; der Plan von einer freien Akademie für freie Geister von Alwida von Meysenbug ist gescheitert.

Die zehn Jahre in Nietzsches Biographie zwischen der Beendigung seines Lehramts als Philologieprofessor in Basel um 1879 und dem Ausbruch seiner Geisteskrankheit im Januar 1889 waren arm an äußeren Ereignissen. Bereits 1879 hatte Nietzsche das Engadin für sich entdeckt. So heißt es im Brief an seine Mutter: »St. Moritz ist der einzige Ort, der mir entschieden wohltut.« Zwei Jahre später stieß ihn der mondäner werdende Ort, der seiner Meinung nach immer mehr »Europas Edelfäule« anzog, ab.

Karl Jaspers spricht in seiner großen Nietzsche-Studie von einer gesteigerten Form des Erlebens bei Nietzsche, einer neuen Atmosphäre, einem nie vorher vernommenen Ton, der ab 1880 das Werk durchziehe. Peter Sloterdijk deutet in seiner Gedenkrede in Weimar zum 100. Todestag des Philosophen »das Ereignis Nietzsche als eine Katastrophe in der Geschichte der Sprache« und »als einen Einschnitt in die alteuropäischen Verständigungsverhältnisse«.

Um die Mitte der achtziger Jahre hatte sich für den umherziehenden Nietzsche eine Routine des Ortswechsels vollzogen: Sils Maria im Sommer und Frühherbst, die italienische Riviera im Winter. Erst in den letzten Monaten vor seinem geistigen Zusammenbruch beschloss er, im Winter einen Wechsel nach Turin vorzunehmen.

Ein Porträt von Friedrich NietzscheIn seinem Buch ›Wie Nietzsche aus der Kälte kam – Geschichte einer Rettung‹ beschreibt Philipp Felsch, Professur für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, eine abenteuerliche intellektuelle Reise, die in den 1960er Jahren von Florenz über Ost-Berlin bis in die Metropole der Postmoderne nach Paris führt. Es ist die Geschichte der ersten kritischen Ausgabe von Nietzsches Nachlass und gleichzeitig eine Geschichte der Nietzsche-Rezeption. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es um Nietzsches Ruf geschehen, denn auch Nazis lasen ihn. Seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die vor Verfälschungen von Nietzsches Schriften nicht zurückschreckte, bekam seit 1932 in Weimar nicht nur einmal Besuch von Adolf Hitler.

Hinter dem Eisernen Vorhang lagerte der Nietzsche-Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs; er geht zurück auf die Sammlungen von Elisabeth Förster-Nietzsche, die seit 1894 den Nachlass ihres Bruders verwaltete und beständig ergänzte. Zwei überzeugte Antifaschisten, Giorgio Colli und Mazzino Montinari, hatten ursprünglich nur eine Neuübersetzung von Nietzsches Schriften geplant. Montinari war 1961 von der Toscana ins Weimarer Nietzsche-Archiv in die DDR gereist, unter ständiger Beobachtung der Stasi. Nach seiner Rückkehr trifft er mit Colli die Entscheidung, so Felsch, »eine neue deutschsprachige Gesamtausgabe von Nietzsches veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften zu edieren.« Dafür musste das Gesamtwerk vollständig neu entziffert werden. Zehntausende von Seiten, die sich in der DDR befanden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind galt.

Felsch schildert eindringlich die Arbeit Montinaris im Weimarer-Archiv. Über mehrere Jahre erarbeiten die beiden Italiener die bis heute gültige wissenschaftlich-kritische Edition von Werk und Nachlass des berühmten Denkers. Ab 1964 publizierten sie die Neuedition in Italien, Frankreich und Westdeutschland. Schon bald aber müssen er und Colli erkennen, dass die französischen Philosophen, die sich auf „ihren“ Nietzsche berufen, die Ideen eines »wahren Textes«, der eigentlichen Bedeutung und der Wahrheit selbst zur Disposition stellen. Es ist die Erfindung der Postmoderne. Philipp Felsch erzählt brillant eine aufregende intellektuelle Geschichte, die auch eine des Kampfes um die Interpretationshoheit Nietzsches war.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Dirk Liesemer / Andrea Liesemer: Tage in Sorrent
Mare Verlag, Hamburg 2022
256 Seiten, 23 Euro
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam
Geschichte einer Rettung
Verlag C. H. Beck, München 2022.
287 Seiten, 26,00 Euro
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mehr vom Meer

Nächster Artikel

Perspektivenwechsel

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Schreibend Mauern überwinden

Kulturbuch | Zu Christa Wolfs neu aufgelegten Essays und Reden

Was geschieht uns, was geschieht mit uns, wenn Stimmen, die uns unverzichtbar geworden sind für unsere Auseinandersetzung mit dem auf uns einstürmenden Weltgeschehen, plötzlich verstummen? Bei der Nachricht vom Tod Christa Wolfs 2011: Gefühl von Leere, Ahnung von unwiederbringlich Verlorenem. Eine eindringliche Nachdenklichkeit, die plötzlich fehlte! Nach der Schockstarre die Einsicht: Sie bleibt uns ja erhalten, wir brauchen sie nur zu lesen! Als nun zehn Jahre später ihre Essays und Reden in drei Bänden neu vorliegen, ist sie da: Die Gelegenheit zum Wiederlesen, Neu-Lesen. Und die Erkenntnis, dass es ein allzu kühnes Unternehmen wäre, alle drei Bände auf einmal vorzustellen, deshalb soll dieser Beitrag zunächst nur dem ersten gewidmet sein. Von BETTINA JOHL

Die köstlichen Rezepte des Herrn Wondrak

Kulturbuch | Janosch / T. Prüfer: Herr Wondrak kocht so wunderbar Man muss nur den Namen »Janosch« aussprechen, und umgehend hat man seine unsterblichen Figuren vor Augen. Wenn dann noch Co- Autor Tillmann Prüfer hinzukommt, sich liebevolle Darstellung und bezaubernde Komik in Text und Bild mischen, dann ist ein Kochbuch der ganz besonderen Art entstanden und gelungen. Von BARBARA WEGMANN

Anarchischer Moment der Glückseligkeit

Kulturbuch | Thierry Paquot: Die Kunst des Mittagsschlafs Es gab zwar Zeiten, da hatte mittags in deutschen Mietshäusern Ruhe zu herrschen. Zwischen eins und drei wurde nicht gespielt, weder Ball im Hof noch Klavier im Haus. Heute ist Mittagsschlaf etwas, das die jüngsten Mitbürger müssen (meistens gegen kreischenden Widerstand) und nur die älteren dürfen (oft mitleidig belächelt). Für alle anderen gilt: Schlafen kann man, wenn man tot ist, wir haben Leistungsgesellschaft. Frühe Lärmschutzverordnung, lasterhafter Müßiggang – hierzulande scheint die Siesta von einem unfrohen Geist beseelt. Thierry Paquot treibt ihn mit Die Kunst des Mittagsschlafs genüsslich aus. Von PIEKE BIERMANN

Zurückgezogenheit im Rausch

Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE

Pracht und Prunk vergangener Zeiten

Kulturbuch | Norbert Wolf: Art Deco Der Prestel Verlag hat mit Norbert Wolf den Richtigen getroffen, um Glanz und Elend des ›Art Deco‹ in seiner Gesamtheit darzustellen. Eingebettet in die Kreativität und die Unruhe der zwanziger Jahre hat das Design des Art Deco unseren Geschmack auf Jahrzehnte geprägt, ohne jemals aus seiner Zwitterstellung zwischen Kunst und Kunsthandwerk ausbrechen zu können. VIOLA STOCKER ließ sich gerne erklären, warum das so ist.