Schwimmen in Montauk

Roman | Jakob Augstein: Strömung

In Montauk geht es nicht weiter. Nur zurück oder hinaus aufs Meer. An jenem magischen Ort, das östlichste Dorf auf Long Island, das seit Max Frischs autobiografischer Erzählung auch fest in der Literaturgeschichte verankert ist, lässt Jakob Augstein seinen Romanerstling Strömung enden. Von PETER MOHR

Ein Mann blickt in einer mediterranen Umgebung in einen Swimming-Pool in dem eine Person tauchtDer 54-jährige Augstein, Miteigentümer des Spiegel-Verlags, Verleger und Chefredakteur der linken Wochenzeitung »Freitag«, gehört zu den schillerndsten Figuren in der deutschen Medienlandschaft. Er wuchs als Sohn des renommierten Spiegel-Gründers auf und erfuhr erst mit Mitte Dreißig, dass Romancier Martin Walser sein leiblicher Vater ist. Nun entführt uns der Mann mit den zwei gewaltigen »Über-Vätern« in seinem literarischen Debüt in die von falschen Versprechungen, Täuschungen und Machtbesessenheit gekennzeichnete Welt der zeitgenössischen Politik – genauer sagt: ins Jahr 2016.

Im Mittelpunkt des Romans steht der aufstrebende Politiker Franz Xaver Misslinger, der schon als Teenager den Sprung in den Landesvorstand seiner Partei, die der FDP nicht unähnlich ist, geschafft hat. »Sie sind einer, der gesehen werden will«, erkannte Walter Schergen, Bundesvorsitzender seiner Partei und politischer Ziehvater in Personalunion. Mit Anfang vierzig ist der Familienvater Generalsekretär, wird als neuer Stern am Polithimmel gefeiert, und strebt den nächsten Karrieresprung an – er will Parteivorsitzender und Vizekanzler werden.

Jakob Augstein weiß, wovon er schreibt – er ist quasi mit politischen Machtkämpfen groß geworden und erzählt ziemlich brav und bieder (ohne jeglichen Skandalfaktor) dem Leben abgelauschte Geschichten aus der Welt der Politik, in denen es um Ränkespiele, Vertrauen, Protektion, Anpassung, Absprachen zwischen Spitzenpolitikern und Medien, Vertrauen und Vertrauensbruch und kühlen Pragmatismus geht. Steiler Aufstieg und tiefer Fall liegen hier stets nur eine Handbreit auseinander, denn eigentlich thront über allem das Machtstreben mit politischer Phrasendrescherei.

Für seine Rede zum entscheidenden Parteitag nimmt sich der durch und durch unsympathisch gezeichnete Misslinger (»Das Scheitern hört mit bei mir mit meinem Namen auf«) eine Auszeit und fliegt mit seiner 16-jährigen Tochter in die USA, ins für ihn gelobte und gepriesene Land, »weil Amerika die Heimat der Freiheit ist«. Er sucht dort die letzte Inspiration für seinen Auftritt auf dem Parteitag. Das wirkt alles gut durch geplant am Reißbrett, und doch geht in diesem Roman einiges daneben. Über die Originalität von Misslingers Decknamen Bruno Bolognese in einem Sex-Chatroom lässt sich schon streiten, aber den gegenüber seiner Tochter angeführten Vergleich, dass er eine leere Batterie und New York für ihn der Dynamo sei, möchte man in einem seriösen Roman nicht zwischen zwei Buchdeckeln sehen.

Mit Fortschreiten der Handlung offenbaren sich zwischen Vater und Tochter handfeste intellektuelle Gegensätze. Schon auf dem Weg zum Flughafen ist Tochter Luise einigermaßen entsetzt über ihren Vater, als beide Zeuge einer brutalen Schlägerei werden. »Hast du die Wut gesehen?«, fragte die Tochter. »Wovon sprichst du?«– lautete Misslingers Antwort.

Während der Politiker in den USA weilt und dort allenthalben auf Veränderungen in der Weltordnung aufmerksam gemacht wird (»Das amerikanische Imperium ist am Ende. Das Zeitalter des Westens ist am Ende.«) geraten auch daheim (im Kleinen) Fundamente seines Lebens ins Wanken. Sein Rang in der Partei ist nicht mehr unumstritten, und seine Frau Selma äußert Trennungsabsichten.

Der einst so selbstbewusste Politiker (»Es ist alles eine Frage des Glaubens.«) gerät in eine tiefe Sinnkrise und ist selbst seiner Tochter, die wie ein Greta Thunberg-Abziehbild daher kommt, argumentativ nicht mehr gewachsen: »Dir sind doch alle Menschen vollkommen egal. Was du Freiheit nennst, macht uns kaputt.«

Und dann fragt der innerlich völlig aus den Fugen geratene, verzweifelte Politiker, der seine Krise mit Tabletten zu bekämpfen versucht auf der letzten Seite, als er sich mit seiner Tochter (und einem Fremden namens Max!) in Montauk befindet: »Was wird denn aus uns?«

Das Ende dieses durchaus unterhaltsamen, aber wenig tiefgehenden Romans über Aufstieg und Fall eines reichlich klischeehaft geratenen Politikers, ist dann schlichtweg doch etwas zu dick aufgetragen: »An ein Umkehren ist jetzt nicht mehr zu denken. Er schwimmt bis zum Ende. Er verschwindet wie ein Tropfen im Ozean.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Jakob Augstein: Strömung
Berlin: Aufbau Verlag 2022
301 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn Mama lacht, hört es sich an wie das Klingeln einer Fahrradglocke

Nächster Artikel

Vom Leben zwischen zwei Welten

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die unbekannteste Band eines untergegangenen Staates

Roman | Thomas Brussig: Beste Absichten Wenn Thomas Brussig erzählt, wird es nie langweilig. Nur aufpassen muss man. Denn leicht verleitet den Berliner Autor sein Temperament, den schmalen Grat zwischen Verbürgtem und Hinzufantasiertem zu überschreiten. Von DIETMAR JACOBSEN

Stadt der verlorenen Dinge

Roman | Antoine Laurain: Das Bild aus meinem Traum Worin liegt der Reiz eines Silberbechers im Louis-quinze-Stil oder einer weinroten Gallé-Vase? Können Gegenstände eine eigene Seele haben? Oder tragen sie gar die Erinnerungen ihrer früheren Besitzer in sich? Und wie fühlt man sich, wenn ›Das Bild aus meinem Traum‹ plötzlich real wird? Antoine Laurain wagt ein betörendes Vexierspiel um wechselnde Identitäten und doppelbödige Illusionen. Von INGEBORG JAISER

Sommer ohne Balkon

Roman | Elena Fischer: Paradise Garden

Den vielversprechenden Debütroman einer bislang unbekannten Autorin schickte der renommierte Diogenes Verlag ins Rennen um den Deutschen Buchpreis. Mit guten Gründen, denn Elena Fischers Paradise Garden kommt so hinreißend frisch und unverbraucht daher, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legen mag, trotz der im Grunde tieftraurigen Thematik. Doch mehrfach heißt es im Verlauf der Geschichte: alles auf Anfang. Von INGEBORG JAISER

Von Sydneys Opernhaus bis zur Elbphilharmonie

Roman | Heinrich Steinfest: Gemälde eines Mordes

Zum zweiten Mal ermitteln Frau Wolf und Markus Cheng in verkehrten Rollen. Während Cheng in 5 Fällen der »einarmige Detektiv war«, ist er inzwischen nämlich zum »einarmigen Assistenten« geworden. Und aus der ehemaligen Assistentin Frau Wolf wurde seine Chefin. Das hat freilich nichts daran geändert, dass das Duo auch weiterhin mit Ermittlungen beauftragt wird, die mehr als nur ein bisschen aus dem Rahmen fallen. Diesmal ist ein Wombat-Forscher in Australien verschwunden. Und weil seine hinterbliebene Gattin es sich leisten kann, setzt sie Wolf und Cheng auf die Spur des Vermissten. Die zunächst zu einem Quartett von deutschen Lottogewinnern führt, die es gar nicht mögen, wenn man ihnen nachspioniert. Von DIETMAR JACOBSEN

Schwein auf Schwejk

Roman | Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs Géza Jasnodworski kocht. Doch nur für die, die es sich leisten können. Denn Géza brutzelt und brät über bibliophilen Erstausgaben. Schnitzel über Schnitzler. Steak auf Joyce. Und Stör auf Dostojewski. Denn niemand liest mehr in der gar nicht so fernen Zukunft, in die Vladimir Sorokin den Leser in seinem neuen Roman entführt. Stattdessen plündert man die Bibliotheken und Museen für ultimative Geschmacksevents. Allein die Konkurrenz der neuen Starköche schläft nicht. Und kommt mit einem Produkt auf den Markt, das Géza und den Seinen das Wasser abzugraben droht. Von DIETMAR JACOBSEN