//

Vom Leben zwischen zwei Welten

Bühne | Musical: MARTYR!

Das Ende bei dieser Musical-Oper wirkt wie ein neuer Anfang. Mit frohem, fast erleuchtet wirkendem Gesichtsausdruck geht der Protagonist des ›Martyr Ratgeb – Maler, Mensch und frei‹ vorbei an himmelblauen Bildern und durch Holzquadrate, die wie ein Tor in eine andere Welt wirken. Kein Wunder: Jörg Ratgeb, gespielt von Mischa Mang, krankheitsbedingt stimmlich unterstützt von Philipp Werner (beide ausdrucksstark und überzeugend), geht dem Tod und für ihn bildlich gesprochen einem Neuanfang, entgegen. Stolz bekräftigt er am Ende, im Sinne und kraft seiner Kunst gestorben zu sein, die nach ihm weiterleben wird. Das tut sie ganz bestimmt, wie die Aufführung am Stadttheater Pforzheim, Inszenierung: Thomas Münstermann, Dramaturgie: Christina Zejewski und Chorleitung von Johannes Antoni, beweist. Von JENNIFER WARZECHA

In 17 unterschiedlichen Bildern erlebt das Publikum nicht nur das Leben und Sterben des Protagonisten, Jörg Ratgeb (geboren 1480 in Schwäbisch Gmünd; gestorben 1526 in Pforzheim), sondern auch die Entwicklungen der Frühen Neuzeit, die zum Beispiel der Reformator Martin Luther (geboren 1483 in Eisleben, gestorben 1546 ebenda) entscheidend geprägt hat.

Der Maler und Märtyrer Ratgeb selbst wehrt sich gegen Obrigkeiten, wie zunächst gegen den reaktionär-gefälligen Stil seines Meisters sowie später am 12. Mai 1525 inmitten des Kampfes der Württemberger Bauern gegen das Heer des Schwäbischen Bundes. Dieser Kampf, mitsamt seinem öffentlichen Eintreten für die Forderungen der Bauern, die sich hauptsächlich gegen die Habsburger Herrschaftsansprüche richteten, kostete ihn das Leben. Ratgeb wird gefoltert, zu einem Geständnis gezwungen und 1526 in Pforzheim hingerichtet.

Wie das Programmheft verrät, spricht ein »Zeugenbericht« von Vierteilung. In der Musical-Oper selbst stirbt der Protagonist in mehreren Schritten. Die Anwesenden werden Teil der Folter und spüren die Schmerzensschreie dank der eindringlichen musikalischen Untermalung durch die Mitglieder des Chors und Extrachors des Theaters unter der musikalischen Leitung von Philipp Haag.
Dadurch, dass Philipp Werner an diesem als einem von zwei Abenden dem Protagonisten seine Stimme leiht, wird die tiefergehende Wirkung noch verstärkt. Das Publikum leidet mit. Überraschend ist, dass sich Jörg Ratgeb in der Inszenierung dann freiwillig seinem Henker zur Verfügung stellt, um im Sinne des Obengenannten wohlwollend einer anderen Welt entgegen zu gehen. Er gehe seiner Familie voraus, verspricht er. Auch dafür, diese gründen zu können, musste der Maler und Martyrer sehr viel kämpfen.

Seine Frau Barbara (sympathisch, ausdrucksstark und einfach überzeugend: Fabiana Locke) ist Leibeigene des Herzogs von Württemberg, hat also keine Rechte. Ratgeb versucht sie über einen Taler vom Herzog freizukaufen, wird jedoch gerügt, er solle sich ganz auf seine Kunst konzentrieren. Seine Barbara steht ihm auch Modell für den Barbara-Altar. Dieser ist für den Herzog wichtig, möchte er sich im Disput mit dem Kaiser vor dem Volk als gütiger Mäzen darstellen.

Während der Herzog sich Ratgeb zusätzlich dazu als seinen Botschafter darstellt, nimmt dessen Leben wiederum seinen Lauf. Barbara sucht ihren Mann, singt von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Am Ende muss sie Abschied nehmen, gewiss dessen, dass ihr Mann ihr vorausgeht in ein anderes Leben.

Gekonnt und passend eingespielte Videoprojektionen von Philippe Mainz unterstützen die einzelnen Szenarien und Bilder und lassen die Vorstellung einer Welt zu, in der das Freiheitsstreben des Einzelnen teils noch mit körperlicher Gewalt oder Todesstrafe unterdrückt bzw. unmöglich gemacht wurde.

Auch Hiltrud (stimmlich gewaltig, überzeugend und ausdrucksstark: Lilian Huynen), die um Jörg Ratgeb wirbt und abgewiesen wird, kommt als Inkarnation des Bösen daher, wie sie im Kostüm mit Totenköpfen (Ausstattung: Ruth Groß, Thomas Münstermann, Karel Spanhak und Ulrike Wenk) herrisch ihre Stimme erhebt und daherkommt. Der tosende und andauernde Applaus beweist, wie sehr die Inszenierung gelungen ist und zum Nachdenken anregt. Einfach klasse!

| JENNIFER WARZECHA

Titelangaben
Musical: MARTYR
Musical-Oper von Frank Nimsgern und Thomas Münstermann
Theater Pforzheim

Besetzung
Jörg Ratgeb — Mischa Mang, Barbara — Fabiana Locke
Hiltrud — Lilian Huynen, Ruprecht — Jon Geoffrey Goldsworthy/Lukas Schmid-Wedekind
Kunz — Klaus Geber/Jon Geoffrey Goldsworthy, Neidhardt — Steffen Fichtner/Philipp Werner
Herzog — Paul Jadach, Albrecht Dürer — ​​​​​​ Jon Geoffrey Goldsworthy / Lukas Schmid-Wedekind
Meister / Vogt — Santiago Bürgi / Dirk Konnerth
Vater / Haushofmeister — Lukas Schmid-Wedekind / Spencer Mason
Erster Scherge — Karel Pajer / Ingo Wagner
Zweiter Scherge — Lothar Helm / Rigobert Störkle
Erstes Kind / Zweites Kind — Isabel Grimm / Anna Hansen / Amélie Kühlmann / Anna Lotte Krystek / Amelie Kunzmann / Elin Schindler / Nicola Teßmer

Chor und Extrachor des Theaters Pforzheim
Statisterie des Theaters Pforzheim
Badische Philharmonie Pforzheim

Musikalische Leitung — Philipp Haag
Inszenierung — Thomas Münstermann
Ausstattung — Ruth Groß, Thomas Münstermann, Karel Spanhak, Ulrike Wenk
Videoprojektionen — Philippe Mainz
Dramaturgie — Christina Zejewski

Weitere Termine:
Do. 23.06.2022, 20:00 Uhr; Mi. 29.06.2022, 20:00 Uhr; So. 03.07.2022, 15:00 Uhr; Di. 05.07.2022, 20:00 Uhr; Fr. 08.07.2022, 19:30 Uhr; So. 10.07.2022, 15:00 Uhr; Mi. 13.07.2022, 20:00 Uhr; Fr. 15.07.2022, 19:30 Uhr

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schwimmen in Montauk

Nächster Artikel

»Bitte erwartet nicht gleich wieder einen Besucherrekord«

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Das Elbe vom Ei

Bühne | Hart gekochtes Improvisationstheater am Ernst Deutsch Theater Hamburg »Was du hier siehst, hat es so noch nie gegeben … und wird so auch nie wieder passieren!« Es verspricht, ein urkomischer, einmaliger, hochkreativer Abend zu werden. Denn niemand weiß, welch verrückte Ideen in den gespannten Zuschauerköpfen herumgeistern. Nicht nur MONA KAMPE war extremely amused.

Swinglegende, Dandy, Charmeur

Bühne | »›My way‹- the true story of Frank Sinatra and Ava Gardner« Nicht wenige Sänger, vor allem Rocklegenden, sind entweder durch Alkoholexzesse oder andere Eskapaden schon zu Lebzeiten aufgefallen und am Ende durch diese stellenweise sogar zu Tode gekommen. Die Biographien anderer Autoren und Sänger wiederum sind nicht nur von der Qualität ihrer Lieder und Texte geprägt, sondern auch von ihren erotischen Abenteuern und Frauengeschichten gezeichnet. Zum Beispiel die von Francis Albert »Frank« Sinatra (1915-1998), Swinglegende, Dandy, Entertainer und Frauenschwarm, der unter anderem mit Songs wie ›My Way‹ und ›Strangers in the night‹ bekannt und berühmt wurde. Von JENNIFER

Feminismus en vogue

Bühne | Nora, Hedda und ihre Schwestern 300 Jahre Badisches Staatstheater, 200 Jahre Badische Verfassung, 100 Jahre Frauenwahlrecht. Die Aufführung ›Nora, Hedda und ihre Schwestern‹ setzt unter der Regie von Anna Bergmann, mit der Dramaturgie von Marlies Kink mehrere Akzente. Von JENNIFER WARZECHA

Wenn das Leben im Moment des Todes an einem vorüberzieht

Bühne | Am Ende Licht

Ein Blick in die menschliche Seele, Rückschau auf das Leben und in die Zukunft – so in etwa könnte man das Schauspiel ›Am Ende Licht‹ von Simon Stephens, Deutsch von Barbara Christ, beschreiben. Im Stadttheater Pforzheim brillierte Markus Löchner, der das Stück dort inszeniert hatte, in seiner Rolle als Michael, in der Vertretung von Timon Schleheck. Dieser erkrankte kurzfristig. Auf berührende Art und Weise führt das Schauspiel nicht nur sämtliche Verflechtungen vor, wie sie innerhalb von Familien auftreten, sondern in der Gesellschaft generell.
Von JENNIFER WARZECHA

Parieté – über eine wunderbare Teilhabe

Bühne | Theater | Parieté-Gala Die »Parieté-Gala« ehrte zum 4. Mal behinderte und nicht behinderte Künstler sowie deren vielfältige Interpretation des Kunstbegriffes. Kunstschaffende aus allen Bereichen begegneten einander auf der Bühne. So entfaltete sich nach und nach die Wirkung ganz besonderer Darbietungen. ANNA NOAH freute sich auf viele einzigartige Momente.