Tohuwabohu

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Tohuwabohu

Schön daß Sie trotz der abenteuerlichen Ereignisse um Dulzberg bis hierher durchhalten, in jedem Verein treten verschiedene Charaktere auf. Sehen Sie, ein Buch ist keine homepage, die mit einem Mausklick auf den Schirm gezogen wäre, und noch bei denen, die lesen, müssen wir uns fragen, was sie verstehen, doch ich schweife ab, ding, ich hatte das vermeiden wollen.

Freuen Sie sich, denn Geduld und Ausdauer finden sich zgL belohnt, Ihnen begegnen in diesem Abschnitt, der vergleichsweise kurz sein wird, zentrale Figuren der Welt des Kyudo, und jeder, der bisher auftrat, gehört zum Ensemble dieser Erzählung, keine Frage, jeder spielt eine exklusive Rolle, jeder nimmt einen hervorragenden Platz ein.

Ja, Stellvertreter, auch du, sogar du, Schlaumeier Abteilungsleiter. Zurück von Six Flags, New Jersey? Du stehst ziemlich draußen, nicht wahr? Nein, kalt ist es nicht, nein. Ja, es wird Sommer. So geht es zu im Leben, und als Stellvertreter bist du zwar eine wichtige Figur im Verein, doch dieses ist die Erzählung, verstehst du. Hier zählt nicht, was Oesterreich ansagt, Oesterreich Strippenzieher – mit seinen undurchsichtigen Ambitionen geht er als eine zwielichtige Figur durch, das kann dir nicht entgangen sein, und du wirst auch eher beiseite gelegt sidL. Ja, der Verein! Mit diesem Verein, genau überlegt, werde ich mich nicht aufhalten, der Fisch beginnt am Kopf zu stinken, wir müssen das wissen, um die Dinge zu ändern.

Wie zu hören ist, führst du seit einiger Zeit den empirischen Nachweis, daß sich das Universum ausdehnt, deutlich beschleunigt ausdehnt. An seinen äußeren Rändern dehnt es sich aus? Interessant, Stellvertreter, an seinen äußeren Rändern, wer hätte das gedacht.

Wodurch die beschleunigte Ausdehnung verursacht wird, das herauszufinden beschäftigt dich, daran arbeitest du, nicht wahr, durch exakte Meßdaten ist bereits nachgewiesen, daß zuvor ein Bremsprozeß stattfand. Gut, gut, Stellvertreter, ich weiß, das hättest du so nicht gesehen.

Aus welchem Grund dieser Tempowechsel sich ereignet und wodurch er hervorgerufen wird, das ist unbekannt. Ein pulsierender Rhythmus, wieso ein pulsierender Rhythmus? Da bleibt dir eine Menge Arbeit, Stellvertreter, sidL. Wie schön, daß du eine Aufgabe findest, die dich ausfüllt. Und selbstverständlich forschst du auch nach den kleinsten Teilen des Universums, nach den kleinsten Teilen forschen sie alle, immer schon, von string und quarks ist die Rede, und unablässig werden vermeintlich kleinste Teile entdeckt, sie begründen die Theorie von 11-dimensionalen Superstrings oder heterotische M-Theorien oder Gruppen E8 x E8 und SO(32), das nimmt kein Ende und ist vermutlich längst schon überholt, aber aber! Gewiß, das sind die Fragen, denen du dich stellen wirst, ojZ. Da bin ich einmal neugierig auf deine Ergebnisse, es ist immer von Vorteil, Bescheid zu wissen.

Du wirst dich fragen – oder fragst dich bereits –, durch welche Energie diese je beschleunigte, je gebremste Ausdehnung wohl angetrieben wird. Gut gefragt, Stellvertreter Erbsenzähler. Es geht voran, es geht voran. Das hat die Astrophysik bislang nicht nachweisen können, aber selbstverständlich existieren diverse Energien, die zusammenwirken, Anziehungskraft konzentriert das Geschehen und seine Abläufe, sie hält alles zusammen, verleiht den zehntausend Dingen Sinn, nicht wahr, aber du willst es präzise herausfinden, Oms, willst die Energien auflösen, ihre Bestandteile mit Namen versehen, ihre Intensitäten messen, die Dinge müssen operationalisiert sein, ich weiß ich weiß, das ist’s, was dich antreibt, du gibst keine Ruhe, das Ergebnis muß meßbar sein, sich in Zahlen ausdrücken, das hältst du für einen hohen Anspruch, darunter geht gar nichts, und vor allem: Was verbirgt sich hinter der dunklen Materie, jener Kraft, die das Weltall aufbläst wie einen Ballon, wie weist man sie nach, diese dunkle Materie, die alles auseinandertreibt, und vor allem: Wie setzt sie sich durch gegen die Anziehung?

Interessante Themen, Stellvertreter, außerordentliche Vorsätze, und ja, das ist niemals verkehrt. Seit neuestem, du wirst es nicht glauben, gibt es Beobachtungen, die den Schluß nahelegen, daß die dunkle Materie gar nicht existiert. Das wirft alles über den Haufen, nicht wahr, die Astrophysik ist eine lebendige Wissenschaft.

Und denk daran, du bist selbst Teil des Universums, das du beschreibst. Das wird dir die Arbeit nicht erleichtern. (Es gibt Sterne, hast du davon gelesen, die jagen ratzfatz durch die Milchstraße, schneller als der Blitz, ja, viel schneller, unvorstellbar schnell, und verstoßen gegen jede wissenschaftliche Regel dmG, verstehst du, sie stellen die Dinge auf den Kopf, vielleicht gibt es einen simplen Grund und sie fühlen sich bloß unbehaglich in ihrer Gegend, sie werden verfolgt vielleicht, politisch verfolgt etwa, oder sind sie doch nur Elendsflüchtlinge, wer weiß das schon, oder es handelt sich um Dissidenten, bloß weg aus dieser Galaxie, und ist es nicht unerhört, sie kümmern sich nicht, sie ignorieren die Schwerkraft, wie kann das sein, das ist höchst kompliziert, man tut sich schwer, das zu erklären, dürfen die das, man kann es nicht wissen.)

Last not least: die schwarzen Löcher studieren, nicht wahr, Schlaumeier, jene überaus rätselhaften schwarzen Löcher, die rotieren und eine unfaßliche Saugkraft haben – was ihnen nahekommt, verschlingen, beseitigen, eliminieren sie, das sollte dir vertraut sein, im Andromeda-Nebel hat man eines lokalisiert, ebenso in der aktiven Galaxie NGC 4258, ein drittes im Zentrum unserer Milchstraße, du siehst ich hab’s nachgelesen, extra deinetwegen hab’ ich’s recherchiert, und morgen ist es vergessen und eine neue Theorie kommt auf, didLdD, sogar einzelne Sterne werden von ihnen verschlungen, istesnichtfurchtbar, und du willst die Stärke messen, mit der sie arbeiten, pack’s an, Stellvertreter Oms, finde ein Verfahren, ihre Stärke zu messen, ein Ingenieur läßt sich nicht ein auf halbe Sachen, miß ihre Stärke, schreib’s auf, ein interessantes Arbeitsfeld, immer gut für Publikationen dwds, laß dich durch niemanden aufhalten, sei der Fels in der Brandung, und ach! stell auch die Frage nach dem Urknall, tu dir keinen Zwang an, weshalb es knallt, das interessiert die Leute, pack’s an, wenn du einmal dabei bist, du hast da draußen alle Zeit der Welt ddd: Was war, bevor diese Erzählung einsetzte, wie kam es zum Urknall und wie setzte er die Ereignisse in Gang, aller Anfang ist schwierig, oh! wie formierte sich die Konstellation auf den ersten Seiten, Stellvertreter, überall auf der Welt suchen sie Leute wie dich, verzweifelt suchen sie Leute wie dich, du bist die Nadel im Heu, Schlaumeier Erbsenzähler Abteilungsleiter, du wirst dich promovieren mit dieser Arbeit, du wirst die Aufmerksamkeit sämtlicher Headhunter erregen, wirst dich habilitieren, ich kann dich, du weißt’s, guten Gewissens entbehren, ein für allemal geh, hier wird dir niemand ein Schloß auf dem Mond versprechen, mach dich vom Acker.

Ach, und, eh ich’s vergesse: Was Anfänge angeht, Stellvertreter, finde doch einmal heraus, wann der Tag beginnt, ja ja ich weiß es fällt dir schwer, meine Worte zu verstehen, immer wenn ich mich einfach ausdrücken möchte, gerät es mir kompliziert, ein Elend, nicht wahr, nimm dir einen beliebigen Tag bzw. warte darauf daß er beginnt, leg dich auf die Lauer, und exakt wenn es soweit ist, dann sag’s: Jetzt!, schrei: Jetzt fängt er an!, mach ihm den Urknall und brüll’s heraus daß jeder merkt, wie wichtig Anfänge sind, wie unglaublich wichtig, denn wo wären wir ohne sie.

Nein nein du stellst es dir zu leicht vor, war ja nicht anders zu erwarten, doch ehrlich, habe ich nicht eine Engelsgeduld mit einem wie dir, ich gebe mir reichlich Mühe, allerhand Mühe, nicht wahr. Du solltest nicht nach der im Kalender festgelegten Uhrzeit für den Sonnenaufgang suchen, dien, das hast du falsch verstanden, kalt ganz kalt, dabei handelt es sich ja lediglich um ein Übereinkommen, nicht wahr, und wenn du’s dir recht überlegst, gilt dieses Übereinkommen generalisiert sozusagen für eine komplette Zeitzone, also es handelt sich gewissermaßen um eine der Einfachheit halber festgelegte Uhrzeit, das ist die in diesem Gerät in jeder Fußzeile angegebene Uhrzeit, sie dient der allgemeinen Orientierung, der Vereinheitlichung der Arbeitsvorgänge usw., damit der Handel organisiert wird, damit Lieferketten gesetzt werden, Produktionslinien, Verkehrsmittel, Rechnungsdaten, Geldverkehr usw., hat aber  mit dem Leben an dem Ort, wo du dich aufhältst, verstehst du, mit dem Leben herzlich wenig zu tun. Das Leben, mein Lieber, dem gilt es auf die Spur zu kommen. Ich hoffe sehr, du bist imstande, mir intellektuell zu folgen, Oms.

Der Tagesanbruch bewegt sich selbstverständlich nicht in Sprüngen über den Planeten, wie es die Zeitzonen suggerieren, sondern er gleitet gewissermaßen sanft über Land und über die Ozeane, er schleicht sich, verstehst du. Und du, Stellvertreter, du befindest dich jetzt gerade irgendwo, Schlaumeier, im Garten, bei einer schönen Frau – wir gönnen sie dir von ganzem Herzen, du solltest eh daran denken, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen, ein Kind wächst heran wie es will, zum Glück, die Eltern haben wenig Einfluß, zum Glück, didLdD also was zögerst du –, wo immer es dir gefällt, und sobald der Tagesanbruch aus dem Osten herandrängt, gibst du genau acht, pedantisch genau, und exakt in jenem Moment, Stellvertreter, in dem er sich auf dein Grundstück zu bewegt, der Tagesanbruch, und nun über deine Füße dahinzieht – in diesem Augenblick, Schlaumeier, brüllst du: Jetzt! Üb’s ein paarmal, bevor du es drauf ankommen läßt, damit du gerüstet bist für den Ernstfall, also gewissermaßen für das Stadium der empirischen Forschung, und anschließend stellst du korrekt korrekt die Daten zusammen für deine Publikation dwds.

Das war dann sozusagen der Anfang des Tages, du verstehst. Und nun? War es ein Urknall? Ah, es wird interessant! Und was geschah zuvor? Ja, vor dem Urknall! Nacht? Finsternis? Nein, dien, da machst du es dir zu leicht, Stellvertreter, falschfalsch, das ist das Elend mit diesen linearen Ansätzen, nein, du darfst diese Fragen nicht auf die leichte Schulter nehmen, keine Erzählung kommt heute mit einem linearen Ansatz daher, akF.

Genug. Stürz dich in deine Projekte, Stellvertreter, verlaß uns, nein du mußt dich nicht sorgen, deine Anteilnahme rührt mich, nein, ich komme auf diesen Seiten völlig allein zurecht, ja du bist entbehrlich, absolut, ja, unbefristet, und ich warte, neugierig wie ich nun einmal bin, auf Resultate, laß dir Zeit, es eilt nicht.

Oder denk an dich selbst, Schlaumeier: Wie fingst du an? Ja, ich weiß: Gab’s dich schon, bevor deine Erinnerung einsetzt? Nein, mußt du selbst entscheiden. Was war davor? Gar nicht so leicht, nicht wahr, herauszufinden, wann und wie es begann mit dir und weshalb eigentlich, nicht wahr, und wer die Verantwortung trägt für einen wie dich. Anfänge, sage ich nur. Nein, ich will es nicht wissen, keiner hier will es wissen, wa. Doch für dich wird es ein lehrreiches Projekt, ojZ, also Servus und alles Gute und paß auf dich auf!

So geht es zu im Leben, stimmt’s, didLdD. Nicht der geringste Grund zur Klage, keineswegs, schon gut schon gut, dien, ich ziehe mich zurück, die Pflicht ruft, die willkommene, ich wende mich dem Geschehen zu, dem Roman.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Prosa als fehlender Rest

Nächster Artikel

Von wegen Lebensfrühling

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

In Fesseln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: In Fesseln

Einmal gesetzt, begann Gramner, ihr seid in Moray zu Gast und ihr seht dort den Umzug anläßlich der Dufftown Highland Games, sie spielen beispielsweise Scotland the Brave, wohin marschieren sie, ich weiß es nicht, sagte er, vielleicht zur Kirche, in Canterbury gingen sie zur Kathedrale, aber Moray hat keine Kathedrale im Angebot, also werden sie zum Rathaus marschieren, doch das ist nicht wichtig, versteht ihr, die Musikzüge marschieren im Gleichschritt zum Takt der Musik, die sie spielen, ihr habt in der Ojo de Liebre keine Gelegenheit, Musik vom Dudelsack zu hören, das ist schottische Tradition, ihr werdet sie kaum kennen, die Musiker tragen Bärenfellmützen, sie sind in regionale Tracht gekleidet und bieten einen mitreißend bunten Anblick, an den Straßenrändern stehen die Menschen und applaudieren gelöst, das ist ein Ereignis, versteht ihr, außergewöhnlich.

Leere

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leere

Das Salzmeer, man muß das wissen, ist ein Ort, an dem nichts geschieht, jedenfalls gilt das für das Lager, ich erwähnte es kürzlich, Sie erinnern sich an den latenten Konflikt um die Ventilatoren, und sofern man die touristischen Ambitionen ins Auge faßt, bildet sich eine Paradoxie heraus, die einer ausführlichen Erklärung bedarf, nicht jetzt, nein, ich werde sie zu gegebener Zeit liefern.

Zivilisation III

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zivilisation

Nein, unmöglich, sagte Harmat, wie solle er sich das vorstellen.

Bildoon lächelte. Zum Ende, sagte er, es gehe auf das Ende zu.

Mit Siebenmeilenstiefeln, spottete Crockeye.

Gewiß, das habe er verstanden, schön und gut, sagte Harmat, aber wie – werde da ein Gong geschlagen, eine Glocke geläutet, knipse jemand das Licht aus.

Wie aus der Ferne klang sanft das Rauschen des Ozeans.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

später

TITEL-Textfeld | Louise Lunghard: ›später‹ Weißt du noch, Anton, als die Muskeln in deinen Armen wuchsen, bevor die Schleifmaschine in deiner Hand gezittert hat, bevor dir die Schrauben aus den Fingern fielen, bevor unser Leben langsam zerbrach, Monat für Monat, Tag für Tag, Stunde um Stunde? Weißt du noch? Und du standest in der Werkstatt zwischen Sägespänen und Leim.

Lagerkoller

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lagerkoller

Du glaubst es, oder du glaubst es nicht, sagte Tilman, ein mehrwöchiger Aufenthalt am Salzmeer, sagte er, sei strapaziös, die Temperaturen kletterten im Juni und Juli auf fünfzig Grad, niemand hielte das lange aus, und dennoch, man buche das Salzmeer der Gesundheit wegen, vor allem die erkrankte Haut erhole sich, die Hauptsaison beginne im Herbst und wieder im Frühjahr.

Über Weihnachten?

Ab November stehe die Sonne niedrig über den Hängen und komme selten hinter den Wolken hervor, die Luft sei diesig. Der Schachspieler habe vor Weihnachten einige Wochen im Tsell Harim gebucht, er sei einer der wenigen Gäste gewesen und habe die Stille genossen, sagt er, doch anstrengend sei es gewesen, ohne Frage, täglich im Lager am Salzmeer, er habe jeden Morgen mit den Spatzen Gespräche geführt, das Salzmeer sei ihr Winterquartier, und ihnen vom Frühstück ein Brötchen mitgebracht, sie hätten schon auf ihn gewartet.