/

Der Entdecker der Langsamkeit

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Sten Nadolny am 29. Juli

»Zum Älterwerden gehört, dass ich schwerhörig bin und schon deswegen – auch mit Hörhilfen – weniger mitbekomme. Und vermöge meiner vielen Lebensjahre kommen mir auch einige Merkwürdigkeiten nicht mehr so merkwürdig vor«, hatte der Schriftsteller Sten Nadolny 2018 in einem ›Welt‹-Interview erklärt. Dabei wimmelte es in seinem letzten Roman ›Das Glück des Zauberers‹ (2017) von Merkwürdigkeiten. Der Zauberer Pahroc, ein uralter, leicht verschrobener Mann, schreibt darin seiner Enkelin Mathilda Briefe. Er ist überzeugt, dass auch sie zaubern kann, und gibt ihr Tipps. Aber die insgesamt zwölf Briefe bieten auch einen manchmal etwas skurrilen Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Pahroc, der Zauber, hat viel zu erzählen, schließlich lässt Nadolny ihn 111 Jahre alt werden. Von PETER MOHR

Auf eine ähnlich merkwürdige Zeitreise hat Nadolny auch Rudolf Weitling geschickt, die Hauptfigur seines Romans ›Weitlings Sommerfrische‹ (2012). Beim Segeln auf dem Chiemsee wird Weitling von einem Blitz getroffen und dadurch zurückversetzt ins Jahr 1958. Durch diesen Kunstgriff mutiert die Hauptfigur zum Beobachter der eigenen Jugend. Ein zweiter Unfall bringt ihn wieder zurück in die Gegenwart, allerdings ist aus dem Richter dann ein Schriftsteller geworden.

Sten Nadolny ist schon immer ein liebenswerter Außenseiter gewesen. Als literarischer »Spätentwickler« betrat er erst mit 37 Jahren nach einigen Umwegen die große literarische Bühne, und seine Plädoyers für die Langsamkeit, für das genaue Beobachten, seine Affinität zum Müßiggang und sein bisweilen ausschweifender Erzählstil stellten sich stets quer zum Zeitgeist. »Literatur soll auf jeden Fall das Tempo des Alltags nicht mitmachen und irgendeine Art von literarischem Fastfood zu liefern versuchen«, hatte Nadolny 2007 in einem Interview erklärt.

Obwohl er am 29. Juli 1942 im brandenburgischen Zehdenick (50 km nördlich von Berlin) als Sohn des Schriftstellerpaars Isabella und Burkhard Nadolny geboren wurde, war Sten Nadolnys Weg zur Literatur äußerst kurvenreich. Nach seiner Promotion bei Thomas Nipperdey zum Thema »Abrüstungsdiplomatie« arbeitete er zunächst als Lehrer und Taxifahrer, ehe er dann als Aufnahmeleiter den Weg zum Film fand. Als er ein Stipendium für ein Drehbuch-Exposé erhielt, war dies nicht der Beginn einer Karriere beim Film, sondern der Start zu seiner literarischen Laufbahn. Der Film wurde nie realisiert, und aus dem Drehbuch entstand später der Romanerstling ›Netzkarte‹ (1981), in dessen Mittelpunkt der bahnreisende Studienreferendar Ole Reuter steht.

Kurz vor der Veröffentlichung dieses Romans hatte Nadolny, der heute abwechselnd in Berlin und am Chiemsee lebt, als völlig unbekannter Autor den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen – für den Vortrag des fünften Kapitels seines 1983 erschienenen und später mehr als 1,5 Millionen Mal verkauften Bestsellers ›Die Entdeckung der Langsamkeit‹. Nadolny sorgte nicht nur durch seinen Text über den britischen Offizier und Entdecker John Franklin (»John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte.«) damals in Klagenfurt für Aufsehen, sondern er kritisierte auch den »schädlichen Wettbewerbscharakter« und teilte sein Preisgeld unter allen Teilnehmern auf.

Die Liebe zu den Außenseitern zieht sich wie ein roter Faden durch Nadolnys Œuvre. Ob Ole Reuter, John Franklin oder der Taxifahrer Selim, der Protagonist aus dem dritten Roman »Selim oder die Gabe der Rede« (1990): Diese singulären Figuren beziehen ihren Glanz aus ihren unkonventionellen Verhaltensweisen und durch ihre geradezu sezierende Beobachtungsgabe.

Die späteren Werke, ›Ein Gott der Frechheit‹ (1994), die unter dem Titel ›Er oder Ich‹ (1999) erschienene zweite Bahnfahrt des Ole Reuter und der weitgehend dokumentarische ›Ullsteinroman‹ (2003), reichten nicht mehr an die Fabulierlust und den Erzählstrom der frühen Jahre heran. Mit seinen beiden zuletzt erschienenen Romanen ›Weitlings Sommerfrische‹ (2012) und ›Das Glück des Zauberers‹ (2017) hat Nadolny noch einmal ein Ausrufezeichen gesetzt und an den Glanz und die Experimentierfreudigkeit der frühen Jahre anknüpfen können.
»Das Leben ist zu kostbar, um es mit Anpassung zu verschwenden«, heißt es im Roman ›Selim oder die Gabe der Rede.‹

Angepasst waren weder die Romane des Schriftstellers Sten Nadolny, der abwechselnd in Berlin und am Chiemsee lebt, noch deren Protagonisten.

| PETER MOHR
| Foto: Harald Krichel, Sten Nadolny-1040218, CC BY-SA 4.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Sachbuch | Sina Lucia Kottmann: Die Kraft der Elemente

Nächster Artikel

Schreibend Mauern überwinden

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Grenzen überschreiten

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers, Publizisten und Kritikers Fritz J. Raddatz

»Zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker. Mehr kann man nicht verlangen.« So schrieb Fritz J. Raddatz in seinem Tagebuch über die Wahl seiner Grabstätte auf Sylt, die er sich schon weit vor seinem 70. Geburtstag gesichert hatte. Ein Nachruf auf Fritz J. Raddatz von PETER MOHR

Die Worte verführten mich

Menschen | Zum Tod des Schriftstellers Günter Kunert »Eines Tages, nach dem Krieg, lieh ich mir eine Schreibmaschine, um einen Brief zu schreiben. Da fiel mein Blick auf die große Kastanie im Hof, und ich stellte mir vor, dass die Äste bedrohlich wachsen und in die Zimmer ringsum eindringen. Plötzlich fing ich an, Zeile für Zeile untereinander zu schreiben, wie in Trance. Die Worte verführten mich! Von da an schrieb ich fast täglich«, erinnerte sich Günter Kunert an seine schriftstellerischen Anfänge zurück. Von PETER MOHR

Er wollte noch fliegen lernen

Menschen | Zum Tod des provozierenden Multitalents Herbert Achternbusch

»Mein Vater war sehr leger und trank gern, er war ein Spaßvogel. Kaum auf der Welt, suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit. Ich schrieb Bücher, bis mich das Sitzen schmerzte. Dann machte ich Filme, weil ich mich bewegen wollte. Die Kinder, die ich habe, fangen wieder von vorne an. Grüß Gott!« Mit diesen typischen, schelmisch-provokanten Sätzen hat Herbert Achternbusch vor einigen Jahren sein eigenes Leben beschrieben. Zugespitzt, drastisch, gegen den Strom – so wie sein gesamtes künstlerisches Werk. Von PETER MOHR

Eloquenz und Kalauer

Menschen | Zum 80. Geburtstag des kulturellen Tausendsassas Hellmuth Karasek »Manchmal fürchtete ich schon, ich schreib mich in eine Depression hinein«, bekannte Hellmuth Karasek über die Arbeit an seinem 2006 erschienenen Band Süßer Vogel Jugend. Der kulturelle Tausendsassa mit der stark ausgeprägten Affinität zur Selbstironie sprüht aber immer noch vor Tatendrang und hat im letzten Frühjahr unter dem Titel Frauen sind auch nur Männer einen Sammelband mit 83 Glossen aus jüngerer Vergangenheit vorgelegt. Sogar prophetische Züge offenbart Karasek darin, sagte er doch den Niedergang der FDP schon zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl voraus. Von PETER MOHR

Kampf gegen das Vergessen

Menschen | 100. Geburtstag von Jorge Semprún

»Nichts könnte mich emotional mehr bewegen, wenn ich an mein Leben und an meine Illusionen für die Zukunft denke, als einen Preis für Europäische Literatur in Salzburg empfangen zu dürfen, der Heimat von Wolfgang Amadeus Mozart, Weltbürger des aufgeklärten Europas«, bekannte der spanische Schriftsteller Jorge Semprún 2006 in seiner Dankesrede zur Verleihung des österreichischen Staatspreises für europäische Literatur. Ein Porträt von PETER MOHR