Was geschieht uns, was geschieht mit uns, wenn Stimmen, die uns unverzichtbar geworden sind für unsere Auseinandersetzung mit dem auf uns einstürmenden Weltgeschehen, plötzlich verstummen? Bei der Nachricht vom Tod Christa Wolfs 2011: Gefühl von Leere, Ahnung von unwiederbringlich Verlorenem. Eine eindringliche Nachdenklichkeit, die plötzlich fehlte! Nach der Schockstarre die Einsicht: Sie bleibt uns ja erhalten, wir brauchen sie nur zu lesen! Als nun zehn Jahre später ihre Essays und Reden in drei Bänden neu vorliegen, ist sie da: Die Gelegenheit zum Wiederlesen, Neu-Lesen. Und die Erkenntnis, dass es ein allzu kühnes Unternehmen wäre, alle drei Bände auf einmal vorzustellen, deshalb soll dieser Beitrag zunächst nur dem ersten gewidmet sein. Von BETTINA JOHL
Christa Wolfs frühe Essays beginnen 1961, im Jahr des Berliner Mauerbaus, der die Teilung des Landes zementierte und zugleich die Weichen neu stellte für persönliche Schaffensprozesse. Die am 18.03.1929 in Landsberg an der Warthe geborene Literaturwissenschaftlerin und Lektorin ist zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, bereits 10 Jahre verheiratet mit Gerhard Wolf; gemeinsam haben sie zwei Töchter. Ihr erstes eigenes Buch, die ›Moskauer Novelle‹ wird im selben Jahr erscheinen; endgültig als Autorin hervortreten wird sie jedoch zwei Jahre später mit dem Roman ›Der geteilte Himmel‹. Und es ist noch lange hin, bis sie beim 11. Plenum 1965 mutig das Wort für staatlicherseits in Ungnade gefallene Literaturschaffende ergreifen wird. In einem Diskussionsbeitrag zum bevorstehenden Deutschen Schriftstellerkongress in der Zeitung ›Freiheit‹ thematisiert sie, wenn auch noch sehr behutsam, das Leiden junger, literaturschaffender Menschen an der Teilung. Nach einer »Staatsdichterin«, die ihr in späteren Verunglimpfungsversuchen angehängt werden wird, klingt dies nicht; als solche hätte sie die Mauer als »antifaschistischen Schutzwall« gepriesen. Antifaschistin allerdings war sie aus tiefstem Herzen, jedoch nicht aus Gefolgschaft zur Staatsdoktrin, sondern aus sie entscheidend prägenden eigenen Erfahrungen und Denkprozessen heraus. Das Denken und das Schreiben zu verteidigen, Raum dafür einzufordern wird ihr zentrales Anliegen bleiben. Dies erübrigt die immer wieder gestellte Frage, weshalb sie nicht – wie andere – in den Westen ging: Es war ihre Überzeugung, dass man bleiben müsse, wo man am meisten gebraucht werde.
›Lesen und Scheiben‹, der Titel des ersten Bandes, ist ursprünglich der eines Essays von zentraler Bedeutung, in dem die Autorin sich mit den Dimensionen im erzählerischen Raum auseinandersetzt und den drei bekannten Koordinaten die entscheidende vierte Dimension hinzufügt: Die Erzähler-Dimension, die Dimension der Tiefe. Erzählen ist für Christa Wolf »wahrheitsgetreues Erfinden aufgrund eigener Erfahrungen«. Prosa habe die Aufgabe, »den Kontakt der Menschen mit ihren Wurzeln zu erhalten, das Selbstbewusstsein zu festigen«, zu ermutigen und das »Subjektwerden des Menschen« zu unterstützen. Der Mensch als Subjekt: Notwendige Voraussetzung für eine funktionierende sozialistische Gesellschaft? Wir ahnen es: Diese Sichtweise wird nicht auf einhellige Zustimmung stoßen. Konflikte sind vorprogrammiert, werden kommen!
Die Mauer wird zum vielschichtigen Symbol, wie es deutlich anklingt in Christa Wolfs Nachwort zum 1964 in der DDR neu erschienenen Roman ›Das siebte Kreuz‹ von Anna Seghers, der großen Erzählerin, die ihr prägendes Vorbild wurde. Deren eigentliche große Zeit jedoch in die ihres Exils fiel, lange bevor an eine DDR auch nur zu denken war, in der sich im Alter allzu staatskonform einzurichten ihr später oft vorgeworfen wurde. ›Das siebte Kreuz‹, die Geschichte einer gelungenen Flucht als Hoffnungszeichen in den Anfängen des Hitler-Regimes, ist in ihrer atmosphärischen Dichte unerreicht. Erschienen erstmals 1934 in einem Exilliteraturverlag in Mexiko, setzte der Roman im Ausland wichtige Signale: Er überbrachte das Bild eines anderen Deutschlands und zeigte auf, dass sich Diktaturen immer auch und vor allem gegen das eigene Volk richten. Eine Erkenntnis, die, wie wir sehen können, auch im 21. Jahrhundert alles andere als ausgedient hat!
Auf dem Pariser Schriftstellerkongress 1935 merkte Anna Seghers in einer Rede an: »Selten entstand in unserer Sprache ein dichterisches Gesamtbild der Gesellschaft. Große, oft erschreckende, oft für den Fremden unverständliche Einzelleistungen, immer war es, als zerschlüge sich die Sprache selbst an der gesellschaftlichen Mauer…« Sie nennt stellvertretend als die Besten: Hölderlin, Büchner, die Günderrode, Kleist, Lenz und Bürger. »Sie schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie sich ihre Stirnen wund rieben. […] Sie wußten nicht, dass das, was an ihrem Land geliebt wird, ihre unaufhörlichen, einsamen, von den Zeitgenossen kaum gehörten Schläge gegen die Mauer waren. Durch diese Schläge sind sie immer zu Repräsentanten ihres Vaterlandes geworden«.
Christa Wolf wird diesen Gedanken aufgreifen; er wird sie Jahre später nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976, die zum Symbol werden sollte für das Zerwürfnis zwischen dem sozialistischen Staat und seinen Kunstschaffenden, in den »Projektionsraum Romantik« führen, in die Auseinandersetzung mit dem Schicksal Schreibender jener Zeit, welches zum Spiegel des eigenen wird in einem zunehmend totalitären und repressiven System. Zwei Jahre später, 1978, manifestiert sich dies in ihrem bedeutenden Essay ›Der Schatten eines Traums‹ über Karoline von Günderrode, die Dichterin, welche angesichts fehlender Perspektiven für sich als Frau und Schriftstellerin 1806 den Freitod wählte. Jener wird auch der 1979 erscheinende Roman ›Kein Ort. Nirgends‹ gewidmet sein. Im Nachwort zu dem 1981 in Leipzig neu aufgelegten Roman ›Die Günderode‹ von Bettine von Arnim mit dem Titel ›Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an‹ zeigt sich eine weitere Steigerung. Hier geht es um die politisch überaus aktive Bettine in der Zeit des Vormärz. Deutlich werden in diesem Zusammenhang Überwachungs- und Zensurapparate des Staates benannt; im Briefwechsel der beiden Frauen wird ein »Gegen-Entwurf an den Wurzeln einer in die Irre gehenden Kultur« erkannt und angesichts tödlichen und tötenden Fortschritts eine »schwesterliche Hinwendung« zur Natur – statt deren Unterwerfung im faustischen Sinne – neu zu denken gewagt. Dies nun freilich weist für uns Heutige deutlich über die Realität der einstigen DDR hinaus, auch über die Grenzen Deutschlands und des europäischen Kontinents, hin zu Themen, die alle Menschen auf diesem Planeten zunehmend betreffen.
Sich mit Christa Wolfs Essays zu befassen ist zugleich auch Gelegenheit, sich bedeutender Weggefährtinnen zu erinnern. Für den ersten Band sei hier Maxie Wander genannt, die mit ihrem Mann Fred Wander, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz, von Österreich in die DDR übergesiedelt war. Durch schwere persönliche Schicksalsschläge, darunter eine Krebserkrankung, die 1977 zu ihrem frühen Tod führte, blieb ihr selbst wenig Gelegenheit zum eigenen Schreiben, jedoch verhalf sie, über das damals neue Medium Tonband, mit der Interviewsammlung »Guten Morgen, du Schöne!« Frauen in der DDR zu einer eigenen Stimme. Auch wenn bei Christa Wolf eine feministische Ausrichtung erst 1983 mit »Kassandra« nachhaltig eintreten wird, leisten viele ihrer frühen Essays einen unschätzbaren Beitrag zur Sichtbarkeit von Frauen in der Literatur, zur Hörbarmachung von Stimmen, die sonst nicht immer nur zufällig gern dem Vergessen anheimgegeben werden. Wir haben diese nötiger denn je!
| BETTINA JOHL
Titelangaben
Christa Wolf: Sämtliche Essays und Reden
Band 1: Lesen und Schreiben (1961-1980)
Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft (1981-1990)
Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck (1991-2010)
Hg. Sonja Hilzinger
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
3 Bände, 1800 Seiten, 36,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe