/

Papst des nouveau roman

Menschen | Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Alain Robbe-Grillet

Als Alain Robbe-Grillet 1955 den Roman ›Der Augenzeuge‹ veröffentlichte, schien die praktische Umsetzung des »nouveau roman« erstmals meisterhaft geglückt. »Ich habe das Schreiben begonnen, um die Gespenster zu vertreiben«, versuchte Robbe-Grillet seine künstlerischen Motive zu erklären. Von PETER MOHR

Ein Porträtfoto des Schriftstellers mit geauen Haaren, grauem Bart und braunem PulloverIm Mittelpunkt stand ein beinahe emotions- und charakterloser Protagonist, Fiktion und Wirklichkeit wurden – auf diversen Zeitebenen alternierend – bunt miteinander vermischt, und eine im konventionellen Sinne stringente Handlung gab es nicht mehr. Vielmehr stand die Beschreibung einer »Gedächtnislücke« im Mittelpunkt, in der die männliche Hauptfigur vermutlich einen Sexualmord begangen hat.

Robbe-Grillet galt vielen Kritikern wegen seines unkonventionellen Stils als unlesbar, und doch wurde er in seiner Heimat respektvoll »monstre sacré« (dt. heiliges Monster) genannt.

Wurde Robbe-Grillet auch gemeinhin als einer der Wegbereiter des »nouveau roman« bezeichnet, so ist doch augenfällig, dass viele seiner Frühwerke deutliche Parallelen zu Albert Camus zeigen – nicht zuletzt auch der bahnbrechende ›Augenzeuge‹, dessen nüchterne Beschreibung eines Verbrechens an Camus‘ ›Fall‹ erinnert.

In seinem 1997 erschienenen autobiographischen Werk ›Corinthes letzte Tage‹ gab Alain Robbe-Grillet, der am 18. August 1922 in Brest geboren wurde und nach dem Studium zunächst als Agraringenieur am Nationalinstitut für Statistik in Paris arbeitete, Auskunft über den »nouveau roman« und dessen renommierteste Vertreter.

»Fragen Sie Butor, Pinget, Duras, Ollier, ja Sarraute, ob ihre Bücher zum nouveau roman gehören. Keiner wird es ohne Zögern zugeben, fast alle werden sogleich ihre Vorbehalte verdeutlichen wollen, mehrere von ihnen werden dieser Einordnung heftige Ablehnung entgegenbringen.« Doch der glänzende Essayist lüftete das von ihm selbst aufgebaute Geheimnis einige Seiten später, indem er die ihm am nächsten stehende Natalie Sarraute in eine Proustsche Tradition einreiht; Claude Simon und Michel Butor, denen er distanziert gegenüberstand, als gelehriger Schüler Kafkas und Faulkners bezeichnet und sich selbst Franz Kafka als literarischen Ahnherrn auswählte.

Robbe-Grillets frühe Romane ›Les Gommes‹ (›Ein Tag zuviel‹), ›Le Voyeur‹ (›Der Augenzeuge‹) und La Jalousie (›Die Eifersucht‹) – so euphorisch sie auch von der Fachwelt gefeiert wurden – verkauften sich nur recht schleppend. Sie waren geprägt von formaler Kompromisslosigkeit; die Sprache selbst rückte immer mehr in den Mittelpunkt. In seinen Essays nahm Robbe-Grillet viele negative Kritiken zum Anlass, den nouveau roman nicht nur als Bruch mit dem Bestehenden darzustellen, sondern auch als einzig mögliche Rettung des Genres Roman, der nach seinem Gusto nicht Zeitdokument, sondern ein poetisches Kunstwerk sein muss.

Mit leidenschaftlichem Impetus stritt Robbe-Grillet auch gegen die Vereinnahmung der Literatur durch die schnelllebige Konsumgesellschaft. »Unglaublich! Als ob die Leserschaft gelernt hätte, mich zu lesen! Ich bin davon überzeugt, dass wirkliche Künstler in der Lage sind, selber ein Publikum für ihre Werke zu schaffen«, kommentierte Robbe-Grillet den überraschenden Verkaufserfolg seines letzten Romans ›Die Wiederholung‹ (2001).

An Person und Werk des eigensinnigen Bretonen haben sich immer die Geister geschieden. »Der nouveau roman ist nie eine Schule und noch weniger eine umfassende literarische Theorie gewesen«, schrieb er in ›Corinthes letzte Tage‹. Das war entweder kokett untertrieben oder aber ein Indiz für Robbe-Grillets Realitätsferne. »Ein Gespräch mit Robbe-Grillet zu führen, ist wie Trekking in Nepal: voller Überraschungen«, schrieb das Literaturmagazin ›Lire‹ zu seinem 85. Geburtstag.

Unstrittig ist, dass sich noch heute viele französische und auch amerikanische Autoren der Nachkriegsgeneration auf seine literarischen Experimente beziehen. Am 18. Februar 2008 ist Alain Robbe-Grillet – einer der großen Nonkonformisten der europäischen Nachkriegsliteratur – im Alter von 85 Jahren in einem Krankenhaus in Caen gestorben.

Eigentlich hätten er und seine Freunde doch bloß Flaubert, Dostojewskij und Kafka fortschreiben wollen, hatte Robbe-Grillet einmal bekannt. An Selbstvertrauen mangelte es dem großen intellektuellen Außenseiter nicht.

| PETER MOHR
| Foto: Ninarichard, Alain Robbe-Grillet, 2002, CC BY-SA 4.0 [Crop]

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Lichtschimmer am Horizont

Nächster Artikel

Vorsorge

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Die Freiheit, die er meint

Menschen | Joachim Gauck: Freiheit Der Katzenjammer ist vorprogrammiert. Wo so viel Vorschusslorbeeren verteilt werden und so viel Jubel auf Verdacht ertönt, kann es nur Enttäuschungen geben. Es ist ähnlich wie bei der Bestellung des künftigen Intendanten für das Stuttgarter Schauspiel, Armin Petras. Berauscht von dem Coup, der einen Theaterleiter aus der Hauptstadt weglocken konnte, verspricht man sich am Neckar ein Goldenes Zeitalter. Von THOMAS ROTHSCHILD

Heimat wehrt sich in uns

Menschen | Zum 90. Geburtstag des Regisseurs Edgar Reitz

Der bekannte Filmregisseur Edgar Reitz ist fremdgegangen und hat pünktlich zu seinem 90. Geburtstag einen opulenten Band mit Lebenserinnerungen veröffentlicht. Selbstverständlich spielt in diesem Buch auch seine Arbeit als hochgelobter Filmregisseur eine zentrale Rolle. Von PETER MOHR

Auschwitz als romanzo-verità

Menschen | Luca Crippa / Maurizio Onnis: Wilhelm Brasse Wilhelm Brasse ist kein Geheimtip, auch wenn der Verlag das unauffällig suggeriert. Irek Dobrowolskis Film mit ihm und über ihn, ›Portretisca‹ (Der Porträtist), lief 2005 im polnischen Fernsehen und seitdem auf vielen internationalen Festivals. Es gab auch in deutschen Medien große Geschichten über Brasse, Erich Hackl hat ihm zwei literarische Reportagen gewidmet, und nach Brasses Tod im Oktober 2012 erschienen Nachrufe in aller Welt. Einen davon, so berichtet das Autorenduo Luca Crippa & Maurizio Onnis in seinem Blog, »hat Maurizio beinah zufällig online gelesen«. So entstand ein Projekt, das tatsächlich bis

Die ungeliebte Tochter

Menschen | Kerstin Holzer: Monascella – Monika Mann und ihr Leben auf Capri

Sie trug einen berühmten Namen und eine große Bürde. Monika Mann ist die Außenseiterin der legendären, faszinierenden Künstlerfamilie. Doch Sonderlinge sind spannend - in der Literatur wie im Leben, findet Kerstin Holzer, die ein zutiefst einfühlsames und bewegendes Porträt der Tochter von Thomas Mann geschrieben hat. Die Autorin begibt sich in ›Monascella – Monika Mann und ihr Leben auf Capri‹ auf die Spuren einer Frau, die auf der italienischen Insel ihre Selbstbefreiung und die Liebe erfuhr und zur Schriftstellerin reifte. Von DIETER KALTWASSER

Keine Liebe ist es nicht gewesen

Briefe | Albert Camus, Maria Casarès: Schreib ohne Furcht und viel

Der Briefwechsel zwischen Albert Camus und Maria Casarès liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor. DIETER KALTWASSER hat ihn gelesen.