/

Keine Leiche, kein Verbrechen

Menschen | Zum 80. Geburtstag von António Lobo Antunes erscheint der Roman ›Die letzte Tür vor der Nacht‹

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird sein Name im Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselraten um die Verleihung des Nobelpreises in die heiße Phase geht. Nun ist der 29. Roman des Portugiesen António Lobo Antunes erschienen, der am 1. September 1942 im durch den Fußball bekannten Lissaboner Vorort Benfica als Sohn eines Arztes geboren wurde und selbst viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hatte. Von PETER MOHR

Eine beleuchtete nächtliche HausfassadeDas neue opulente Erzählwerk, das 2018 im Original erschienen ist, basiert auf einem realen Hintergrund – ein abscheuliches Verbrechen, das in der Nähe von Porto verübt wurde.

Lobo Antunes nimmt den Leser mit auf eine weitverzweigte Reise ins Unterbewusste von fünf Männern, die durch einen grausamen Mord auf mysteriöse Weise miteinander vereint sind. Ein Geschäftsmann wurde ermordet und die Leiche in Schwefelsäure aufgelöst. »Keine Leiche, kein Verbrechen«, lautet die verschwörerische Quintessenz der Täter.

Mehr Erkenntnisse aus seiner langjährigen psychiatrischen Arbeit, mehr Obsessionen und mehr gnadenlose Einblicke ins Innenleben seiner Figuren hätte der Autor kaum in seinen Roman pressen können.

In 25 Kapiteln mit immer wieder alternierenden Erzählperspektiven beleuchtet Lobo Antunes die Tat und ihre Vorgeschichte aus den Blickwinkeln der fünf beteiligten Personen: ein Rechtsanwalt und dessen Bruder, ein Kräuter- und Gewürzhändler und zwei äußerst zwielichtige Geldeintreiber. Es geht um viel Geld, um Briefkastenfirmen und um Betrug von ganz großem Kaliber.

Dabei bedient sich Lobo Antunes oft einer höchst subjektiven Sprache, die sich ganz stark an die Mechanismen des Denkens, des total Assoziativen anzupassen versucht.

Das erfordert vom Leser bisweilen viel Geduld und auch eine Portion detektivischen Spürsinn, um nicht den roten Faden zu verlieren.

Mit einem absolut monströsen Satz- und Denkgebilde leitet Lobo Antunes gleich den Roman ein: »An dem Morgen, als mein Schwager starb, war er es, der mich am Telefon geweckt hatte, um mir zutiefst verstört mitzuteilen, dass er geträumt habe, er sei in dieser Nacht gestorben, während ich, mehr jenseits als diesseits, in einem wirren Traum mit Tieren und Zwergen als Beigabe verfangen, die freie, noch nicht ganz mir gehörende Hand auf der Suche nach der Uhrzeit zum Nachttisch ausstreckte, …….« Und noch kein Satzende in Sicht.

Lobo Antunes‘ große Meisterschaft besteht auch darin, dass er seinen Figuren freien Lauf lässt und sie dadurch eine lebensechte Eigendynamik entwickeln können. Fünf Täter, fünf gebrochene Lebenswege, fünfmal blickt man als Leser in tiefe seelische Abgründe. Und doch behalten die »Monster« ihre Individualität. Alle vom Autor dargelegten Versionen wirken trotz ihrer Unterschiedlichkeit durchaus glaubwürdig. Realität und Subjektivität ringen hier auf einem schmalen Grat um die Balance. Hinter der bürgerlichen Fassade brodelte es kräftig.

Was Brutalität und Grausamkeit angeht, wozu Menschen fähig sind, weiß Autor Lobo Antunes aus seiner eigenen Erfahrung. Er war ab Januar 1971 für 27 Monate als Militärarzt in Angola tätig. Hier zeigt er anhand des mörderischen Quartetts, wie Gewalt entstehen, wohin sie führen kann und was selektive Wahrnehmung in diesem Kontext bedeutet.

Seine langjährige Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann, die auch diesen Roman wieder vorzüglich aus dem Portugiesischen übertragen hat, erklärte vor einigen Jahren einmal treffend, dass es so schwierig mit diesen Romanen sei, weil man unentwegt traurigen, gebrochenen Figuren begegnet. »Sie ist neulich von mir abgefallen, und ich kann sie nicht mehr finden, wahrscheinlich ist sie unter das Bett gerollt oder für immer in irgendeiner Spalte verschwunden«, heißt es im typischen Lobo Antunes-Stil über die verlorene Hoffnung.

»Was und wie ich schreibe, muss unbedingt etwas mit mir zu tun haben, mit meinen Hirngespinsten und Obsessionen«, hatte der portugiesische Schriftsteller vor einigen Jahren in einem Interview über sein dichterisches Credo befunden.

António Lobo Antunes ist und bleibt ein begnadeter Seelenvermesser, ein Autor, der psychische Deformationen und unendlichen Schmerz transparent zu machen versteht. Wieder einmal ein aufwühlendes Erzählwerk tief aus der Seele Portugals – zwischen Fado, Saudade (dt. Weltschmerz) und Thriller. Und eine weitere Empfehlung für den Nobelpreis.

| PETER MOHR

Tielangaben
António Lobo Antunes: Die letzte Tür vor der Nacht
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Verlag, München 2022
556 Seiten, 28 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Alternative zu Dose und Tütensuppe

Nächster Artikel

Abschied

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Genialer Meister oder einsamer Teufel?

Comic | Beethoven: Unsterbliches Genie / Goldjunge

2020 feiern wir den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. In diesem Beethoven-Jahr sind nicht nur zahlreiche Sondersendungen zu dem Ausnahmekomponisten über den Äther gegangen, sondern auch einige Graphic Novels erschienen, die sich mit seiner Person befassen. FLORIAN BIRNMEYER stellt ›Beethoven: Unsterbliches Genie‹ (Carlsen) von Peer Meter und Rem Broo und ›Goldjunge: Beethovens Jugendjahre‹ (avant-verlag) von Mikael Ross vor.

Melancholic Melodies And Organic Grooves: An Interview With Chic Miniature

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world As a lover of electronic music it can get a bit overwhelming trying to keep up with the number of new releases coming out each week. For every Compro or Skylax House Explosion there are numerous functional house and techno records which are simply content to exist. This is why albums such as Ficción Futuro by Chic Miniature can seem like such a godsend. Formed of eight pieces of dance floor delight, the record manages to do a very rare thing these days, in that it works

Frankie Knuckles: A Tribute To A True Gentleman of House.

Bittles‘ Magazine As many of you are probably aware, Frankie Knuckles, the famous DJ and producer, passed away at his home in Chicago on the 31st of March 2014 from type II Diabetes-related complications. One of the originators of the house sound Frankie was much loved by everyone who had had the pleasure of meeting him, heard his music, or experienced the aural delight of one of his legendary DJ sets. By JOHN BITTLES

Trauer ohne Hass

Menschen | Zum 50. Todestag von Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (am 12. Mai)

»Ihr lyrisches und dramatisches Werk gehört jetzt zu den großen Klagen der Literatur, aber das Gefühl der Trauer, welches sie inspirierte, ist frei von Hass und verleiht dem Leiden der Menschheit Größe«, hieß es in der Laudatio von Ingvar Andersson anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises, den Nelly Sachs am 10. Dezember 1966 (an ihrem 75. Geburtstag) aus den Händen des schwedischen Königs Gustavs VI. Adolf entgegen nahm. Von PETER MOHR

Immer noch neugierig

Menschen | Zum 90. Geburtstag von Cees Nooteboom (am 31. Juli) erschien der Band ›In den Bäumen blühen Steine‹

»Manchmal geschieht so etwas, man hat Dinge in aller Unschuld geschrieben, und Jahre später hat ein italienischer Bildhauer sie gelesen und einen Zusammenhang mit dem entdeckt, was er selber macht«, schreibt Cees Nooteboom in seinem jüngst erschienenen Band »In den Bäumen blühen Steine«, in dem er sich mit den Berührungspunkten seiner Gedichte und den Skulpturen des italienischen Künstlers Giuseppe Penone (Jahrgang 1947) auseinandersetzt. Von PETER MOHR