Lesestoff

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lesestoff

Was sie so aufmerksam lese, fragte Farb, sie schenke sich gelegentlich Tee ein und lasse sich kaum unterbrechen.

Anne lächelte und blickte auf.

Ob sie unhöflich sei, fragte sie.

Keineswegs, sagte Farb, und er hoffe, nicht aufdringlich zu sein.

Auch Farb konnte höflich sein. Tilman schmunzelte.

Sie lese gern einmal eine Erzählung aus Schehezerades Tausendundeine Nacht, sagte sie und wies auf ein zweites Buch neben dem Stövchen.

Ali Baba?, fragte Farb.

Ali Baba, sagte sie, Sindbad der Seefahrer, Harun al Raschid.

Ob das nicht eine fremde Welt sei

Eben deshalb lese sie, damit sie auf andere Gedanken komme. Tausendundeine Nacht sei eine Sammlung von Erzählungen, die jahrhundertelang mündlich überliefert, in Kaffeehäusern vorgetragen und zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts schriftlich aufgezeichnet wurden.

Die Kultur der Moderne, wandte Farb ein, habe daraus viele Episoden für Kinderprogramme und zu Zeichentrickfilmen bearbeitet, ob das denn ein angemessenes Niveau sei.

Anne hörte den Vorwurf und lächelte. Wer diese großartige Literatur so umsetze, entgegnete sie, der habe wenig davon verstanden und dürfte einen  reduzierten Begriff von Literatur haben, doch seien einzelne Episoden durchaus auch in Theateraufführungen adaptiert worden.

Sklaven, hielt Farb ihr vor, seien ein Teil des Alltags.

Ob er damit der zeitgenössischen cancel culture das Wort reden wolle, fragte sie, zur Zeit sei da Winnetou ein umstrittenes Thema, ein heiß diskutiertes Sommerlochrevival, und ja, das Geschehen habe oft märchenhaften Charakter, es sei leicht, spielerisch, voller Phantasie und tiefer religiöser Überzeugung.

Sklaverei?, wiederholte Farb.

Dem Wolf, der die Geißlein verschlingt, wird der Bauch aufgeschnitten und ersatzweise mit Steinen gefüllt, bevor er in einem Brunnen versenkt wird, Lesestoff für Kinder, Anne lachte, und beliebtes deutsches Märchengut, wir dürfen das ebenfalls nicht beim Wort nehmen, das Leben hat viele Facetten, die Gedanken sind frei.

Tilman räusperte sich, nahm einen Keks und sagte nichts.

Gewiß, bekräftigte Anne, sie lese gern einmal eine Episode aus Tausendundeine Nacht, es handle sich um entspannende Texte, und nein, entgegnete sie dem Einwand, es handle sich keineswegs um niedriges literarisches Niveau, im Gegenteil, auch im europäischen Kulturkreis seien Erzählkränze bekannt, etwa Bocaccios Decamerone.

Farb lächelte und wiederholte: Sklaverei?

Es seien mehr Grausamkeiten enthalten als nur die Sklaverei, und das Geschehen bilde die Wirklichkeit ab, sie werde uns vor Augen geführt, und wir wissen, daß wir das ablehnen, auch in der Gegenwart würden Menschen wie Sklaven gehalten, Farb, nur daß es anders genannt werde, die Verhältnisse sind, wie sie sind, und wir ändern die Fakten nicht, indem wir ihre Namen auswechseln und Formulierungen in literarischen Werken überarbeiten.

Cancel Culture wäre so etwas wie eine Zensur?

Exakt, Farb, und indem man die Sprache reguliert, meint man die Welt zu verbessern, das ist vielleicht gut gemeint, doch das ging immer schon schief, auch die sogenannte politisch korrekte Sprache nistet in diesem Dunstkreis.

Tilman hörte aufmerksam zu, Tausendundeine Nacht wäre folglich ein Werk, das der Phantasie freien Lauf lasse und uns die Augen öffne, während die Cancel Culture das Gegenteil betreibe, die Sprache regulieren wolle und ihrer Vielfalt Grenzen setze.

Er rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Farb griff zu einem Kipferl.

Tausendundeine Nacht, für Tilman war das unstrittig, werfe die sattsam bekannten Fragen nach der Rolle der Frauen auf: Heimchen am Herd, verführerische Prinzessin, Familienoberhaupt, Intrigantin, Freundin, der Phantasie seien keine Grenzen gesetzt, man sei versucht, von einem zeitlosen Werk zu reden.

Anne lächelte. Das Personal sei facettenreich, sagte sie, und jener Mann, der eifrig seinen Geschäften nachgehe, falle anderentags durchaus auch als ein Einfaltspinsel auf.

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Was solle man dazu sagen, fragte Farb, die Realität werde übertönt vom Lärm einer Wohlfühlgemeinde, deren Welt eine Wirklichkeit taumelnder Blasen sei, die sekundenlang irrlichternd schweben, bevor sie geräuschlos platzen und sich ins Nichts auflösen würden.

Eine mediale Wirklichkeit, fragte Tilman.

Spaßgesellschaft, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Diese Wirklichkeit habe sich vom realen Leben verabschiedet, sagte Farb, sie überlagere den Alltag und, wie gesagt, sie werde letztlich geräuschlos platzen und keinen Eindruck hinterlassen, und der Mensch, als ginge all das mit rechten Dingen zu, sähe sich unversehens mit einer rauhen Wirklichkeit konfrontiert

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Halb zehn war seine Zeit gewesen, anzurufen, am Freitag, am Donnerstag oder bereits am Mittwoch, ich hatte gefrühstückt, sagte Tilman, und wir verabredeten uns für den Sonnabend oder den Sonntag zu Kaffee und Kuchen, wir hatten ein gediegenes Stamm-Café aufgetan, nein, nicht das Gnosa, ich ging, du weißt es, Susanne, sonst gern auch ins Gnosa, manchmal bestellte er eine Kleinigkeit zu essen, das war uns zur festen Gewohnheit geworden, nicht jedes Wochenende, aber in regelmäßigen Abständen, das Leben basiert auf unverrückbaren Gewohnheiten, Robert hatte sich auch um seine Enkel zu kümmern, der Zehnjährige spielte im Fußballverein und sang im Schülerchor, wir hatten stets ein Menge Gesprächsstoff.

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Florida aufgeben? Ehrlich – wie stellen wir uns das vor?

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Das stiehlt mir die letzte Zuversicht, stöhnte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

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