Er sei neugierig geworden, sagte Farb, und habe selbst etwas über chinesische Landschaftsmalerei gelesen.
Annika lächelte. Lesen macht schlau, sagte sie und schenkte Tee nach, Yin Zhen.
Tilman blickte auf.
Sie habe sich unter der Tang-Zeit im siebten bis neunten Jahrhundert herausgebildet, sie habe ihre Blüte unter den Song und Yuan (10. Jh. bis 15. Jh.) erlebt, ihr Schwerpunkt habe sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf das Genre der Blumen und Vögel verlagert, und im neunzehnten Jahrhundert sei die große Landschaftsmalerei nach und nach erloschen.
Eine außergewöhnlich lange Zeit, sagte Annika.
Ihr Ende, so werde erklärt, sagte Farb, bilde den Verlust der Einheit von Natur und Kultur ab und, wenn man so wolle, ein Verschwinden der Welt überhaupt, es herrschen ungewöhnliche Zeiten.
Große Worte. sagte Annika.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, sagte Tilman, wie erbarmungslos westliche Invasoren im neunzehnten Jahrhundert China heimgesucht hätten: in den Opiumkriegen 1839-1842 und 1856-1860 – im Oktober 1860 plünderten und zerstörten dreitausend britische und ebenso viele französische Soldaten den berühmten Sommerpalast Yuanming Yuan des chinesischen Kaisers Qing Xianfeng –, dem Taipeh-Aufstand 1850-1864, dem Boxeraufstand zur Jahrhundertwende, schließlich dem endgültigen Einbruch, daß 1911 der letzte chinesische Kaiser abdankte. Stets habe die Sicherheit geherrscht, daß Berge und Flüsse von den menschlichen Wirren unberührt blieben, doch diese Gewißheit habe sich mit dem Eindringen der westlichen Technologien aufgelöst, einem Prozeß, der sich in der Moderne mit dem Bau des Yangtse-Staudamms ungebremst fortsetze.
Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.
Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne, Farb strich sie langsam und sorgfältig glatt.
Die Landschaftsmalerei, sagte Farb, sei in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, unübersehbar sei der Kontrast zur westlichen Malerei, etwa aufgrund der Abwesenheit jeglichen Schattens; zwar sei gelegentlich die Sonne dargestellt, jedoch mit dem Licht eines noch schattenlosen frühen Morgens oder später am Tag bei bedecktem, nicht düsterem Himmel, sie werfe keine Strahlen und lasse keine Schatten entstehen, den Wirkungen von Regen oder ziehenden Nebeln werde größere Aufmerksamkeit geschenkt als dem Zentralgestirn, und – wir erinnern an die Zentralperspektive – wieder entstehe der Eindruck, das Denken in hierarchischen Strukturen sei ein grundlegendes, ein Alleinstellungsmerkmal westlicher Kultur, deren Malerei sich des Lichteinfalls häufig zum Zweck theatralisch-äußerlicher Inszenierung bediene, beispielhaft in der Portraitmalerei des siebzehnten Jahrhunderts, das europäische Denken orientiere alle Bewegung auf eine zentrale Instanz hin, gänzlich anders als das gleichmäßige, zurückhaltende Licht der chinesischen Landschaftsmalerei: ein mildes Leuchten, das mit der großen Gelassenheit chinesischer Philosophen einhergehe.
Schön, sagte Annika und legte ihr Reisemagazin beiseite, doch wie man es drehe und wende, die Zeit dieser Malerei sei vergangen, aus, vorbei, die westliche Moderne habe längst auch in China Einzug gehalten, das Maschinenwesen breite sich aus.
Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.
Tilman räusperte sich und bemühte sich um eine schmerzlose Sitzhaltung.
Eine Betrachtung des Fremden, sagte er, sei auch hilfreich, um die eigene Welt zu verstehen, die chinesische Landschaftsmalerei sei Ausdruck einer stabilen eigenständigen Kultur.
Verwirrend, sagte Annika, auch die eigene Welt drohe ihr fremd zu werden.
Ein Durcheinander. Tilman war amüsiert.
Fast scheine es, sagte Farb, als ob es die Tradition der Landschaftsmalerei gar nicht mehr gäbe, ein angesehener Landschaftsmaler des zwanzigsten Jahrhunderts sei aber Cao Yingyi, ein Künstler von internationalem Renommee.
Vermutlich sei es einfach schwierig, sagte Tilman, in einer kulturell so vielfältigen Nation Traditionslinien fortzuschreiben.
Wie auch immer, sagte Farb, die traditionelle Landschaftsmalerei definiere sich durch eigene Charakteristika wie ihre enge Beziehung zum Taoismus und zum Zen-Buddhismus, so seien die leeren Flächen überaus bedeutsam, sie seien der Raum der Drachenarterien und gewährleisteten den Ausgleich und die Harmonie der Darstellung – denn der Geist habe keine eigene Form, er nehme erst durch die Dinge Gestalt an, und die Gemälde würden den Geist des Universums erfassen, der Lebensatem erfülle die Malerei mit Seele und empfinde die Gesten der Schöpfung nach.
Kompliziert, sagte Annika und blätterte in ihrem Reisemagazin.
Tilman schenkte Tee nach, sie hatten wie üblich das Drachenservice aufgedeckt, rostrot, er hatte es aus Beijing mitgebracht, ich erwähnte das, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war.
Bevor der Maler ein Gemälde ausführe, müsse er sich einer intensiven Ausbildung unterziehen, sagte Farb, aus der Kalligraphie werde eine große Zahl spezieller Pinselführungen unterschieden, das Handgelenk arbeite, wie es heiße, in einem Zustand der Leere, die Ausführung erfolge rhythmisch und in einem Schwung.
Das werde ihr zu kompliziert, sagte Annika, es verlange ein hohes Maß Disziplin und wirke wie aus der Zeit gefallen, nein, die Welt empfinde gänzlich anders heutzutage.
Tilman räusperte sich.
Farb möchte Annika gern recht geben, bewunderte aber die chinesische Landschaftsmalerei, sie sei, sagte er, ein unvergleichlicher Höhepunkt, einzigartig, es gäbe weit mehr darüber auszusagen, ein Thema ohne Ende, viel zu lernen für eine heftig aufgeblasene Neuzeit.
Er tat sich eine Pflaumenschnitte auf.