Miami, USA, wir waren in Miami, wann war das. Tilman erinnerte sich. Das dürfte drei, auch vier Jahrzehnte her sein, sagte er, Rucksacktouristen, sagte er, die Zeiten waren anders, wir waren zu viert, irrten ziellos vom Flughafen in Richtung Stadt, es wurde Nacht und wir rollten Schlafsäcke auf einem weitläufigen Rasen aus, Gelände noch des Flughafens, weit waren wir nicht gelangt zu Fuß, wir schliefen drei, vier Stunden, bis wir vom grellen Scheinwerfer einer Polizeipatrouille geweckt wurden, freundlich aber bestimmt, dies sei kein Platz zum Übernachten, außerdem lebten hier Schlangen, das sei nicht ungefährlich, und wir sollten zusehen, in die Stadt zu kommen.
So geht’s, sagte Anne. Und weiter?
Wir sind jedenfalls heil da heraus, wir müssen irgendwie zur Stadt gelangt sein, nach Downtown, ich erinnere mich wir vertrödelten die Tage auf Miami Beach.
Schön, sagte Anne, hielt ihre Tasse in der Hand und blickte nachdenklich auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie war fasziniert. Das einzige, was ihr wenig gefiel, war die gegabelte obere Verankerung des Henkels, das war Mumpitz, es gab gefälliger geformte Tassen, sie erinnerte sich an Mon Ami von Roerstrand, doch was wäre ohne Fehl und Tadel, sie schenkte Tee ein, sie warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.
Und weiter, fragte sie.
Nichts weiter. Wir blieben drei Tage und lösten ein Ticket für den Greyhound nach New Orleans, doch das ist eine andere Geschichte. Gegenwärtig wird Miami seitens der Behörden als Überschwemmungsgebiet eingestuft, die Gezeiten sind heftiger geworden, die ›King Tides‹ im Herbst sind extrem zerstörerisch, und bisweilen tritt eine Überschwemmung auf, ohne daß es geregnet hätte, das ist neu, auf gut Glück wird kaum jemand Urlaub in Miami buchen, 2016 strandete ein Tintenfisch in einem Parkhaus, das Foto ging um die Welt.
Niemand beschäftigt sich mit den Ursachen?
Oh doch, die Lage ist brandgefährlich, das ist bekannt, einzelne Inseln der Florida Keys an der Südspitze blieben im vergangenen Jahr bis zu neunzig Tagen überschwemmt, das Meerwasser dringt in das Grundwasser ein und macht es ungenießbar, so geschehen bei fünf Süßwasserquellen in Hallandale Beach im Norden Miamis, was kann man tun, dagegen ist kein Kraut gewachsen, der Mensch ist auf dem Rückzug, die vorgelagerten Strände von Miami Beach konnten weder durch zusätzliche Deiche gesichert werden noch dadurch, daß Straßen höhergelegt wurden, zudem verbreitet das abgepumpte Wasser einen elenden Gestank.
Der Mensch ist machtlos.
Der neueste Schlager auf dem Immobilienmarkt sind luxuriöse Hausboote mit vierhundert Quadratmetern Grundfläche, rette sich wer kann, die Milliardäre suchen Zuflucht. Für Liberty City, einen nordöstlichen Bezirk immerhin 2,6 Meter über dem Meeresspiegel, wird dichte Bebauung geplant, der Mensch ist verzweifelt, er ist machtlos,
Immer schon, Tilman, nur daß er es allmählich einsieht, gezwungenermaßen einsieht, auch gegen Covid-19 kommt er nicht an, er kann sich nicht freikaufen, verstehst du, keine Korruption, die Natur ist nicht bestechlich, und das raubt ihm Sinn und Verstand.
Und was hat er davon, daß er es einsieht?
Schwer zu sagen, Tilman. Er kann umdenken, kann neue Wege beschreiten, vor allem muß er darauf achten, nicht als Herrscher aufzutreten, er muß bereit sein, sich in die Abläufe der Natur zu integrieren, ihm bleibt keine Chance. Er muß behutsam ausprobieren, was die Natur zuläßt.
Wird er das können?
Das wäre der einzige Ausweg, aber wahrscheinlich ist er eh zu spät dran, die Natur hat längst massive Abläufe eingeleitet, denen er nicht gewachsen sein wird.
Hör allein auf seine Wortwahl, Anne, jetzt in dieser Corvid-19-Krise. Die Lage sei beherrschbar, prahlt er und offenbart null Bereitschaft, die Dinge in neuem Licht zu sehen. Das Virus, glaubt er, sei weitgehend unter Kontrolle. Da offenbart sich der alte Adam, sagte Tilman, scheinheilige Ankündigungen und nicht der geringste Versuch, sich zu integrieren und die Rolle des Alpha-Männchens abzulegen, so wird nichts mehr draus, der Wortlaut ist anmaßend.