Der Meister des Film noir

Kurzprosa | Christoph Haas: Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember

In den kurzen Geschichten scheint ein romantischer Grundton mitzuschwingen, eine Sehnsucht, der Blick auf etwas Vertrautes – eine erste Stimmung, die jedoch nach wenigen Zeilen bereits wieder durchbrochen wird. Der kleine Band mit Erzählungen von Christoph Haas Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember sammelt alltägliche Szenen, die es in sich haben. Nichts Dramatisches und Extravagantes, aber dennoch gibt es kleine Unregelmäßigkeiten in der scheinbaren Normalität. Ein bemerkenswertes Debüt findet HUBERT HOLZMANN

Christoph Haas filmt in seinem Erzählband Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember kurze Szenen, manchmal nur Momentaufnahmen. Im Eröffnungstext »Wellen« erzählt er ein Flüchtlingsschicksal. Die beiden Brüder, Hamza und King, sind vermutlich bereits im sicheren Europa angekommen. Beide sind traumatisiert. Am Ende. Hilflos. Mittellos. Die Flucht über das Meer im kenternden Boot für uns unvorstellbar. Die Bilder von gestrandeten Booten, von angespülten Rettungsringen befremdend, erschütternd. Hamza und King schwebten zwischen Leben und Tod. Auch an Land angekommen haben beide keinen Anlass zur Freude. Sie sind in einer verzweifelten Lage. Und King will seinen Bruder gesehen haben, wie dieser mit einem fremden Mann in ein Hotel gegangen ist.

»Bruder, sagt er, bitte. Es war doch klar, so etwas machen wir nicht… Das war ich nicht, sagt Hamza. Das war ein anderer.« Beide sind mit ihren Erlebnissen allein gelassen, können sie nicht aussprechen, müssen stark sein. Ihre Verbindung – zueinander, zur Heimat – ist zerschnitten, gestört durch die harte Realität. Aber nicht ganz. Was ihnen geblieben ist, sind die Erinnerungen an ihre Kindheit, an einen Freund, zu Hause in der Heimat. Was sich aber gleichzeitig wie in einem Zeitraffer darüberlegt, sind die traumatisierenden Ereignisse der Flucht über das Meer, wie »eine turmhohe Welle, sie wartet auf King, und sie holt ihn, mit weiten, nassen Armen, seine Schwimmweste löst sich…« Momente der Todesfurcht schießen King staccatoartig durch den Kopf. Dem Tod ganz nah, das »gelobte Land« noch ganz weit.

Zeitlos aktuell auch die Begegnung zwischen Mia und Carlos in der Erzählung »X«. Beide hatten eine Beziehung und treffen sich nach längerer Pause wieder. Erschreckend ist die klare realistische Schilderung des Zusammentreffens. Er erinnert sich an liebevolle Details, an Mias »gärtnerische Strenge« beim Zupfen ihrer Augenbrauen, aber auch daran, wie er sich schon damals von ihren »Röntgenaugen« durchschaut gefühlt hat. Wie früher wird er »versuchen, ein bisschen zu lügen«. Erst befragt sie ihn zu seinem neuen Job, dann wird sie direkter und drängt ihn zu sagen, was er von der Kellnerin hält, die ihm zu gefallen scheint.

Es ist eine leicht distanzierte, gestörte Unterhaltung, die beide führen. Mia wie schon früher zu aufdringlich, Carlos antwortet einsilbig, lügt. Noch dazu führt er gleichzeitig eine weitaus offenere Kommunikation, jedenfalls was die Bilder betrifft. Carlos bereitet sein nächstes Date vor. Auf dieser Ebene kann er selbstbewusster agieren, muss sich nicht für seine Kündigung rechtfertigen. Bei seiner Dating-App kommt es nur darauf an, was er hat: »Er holt sein Handy heraus, macht ein Foto und verschickt es.«

Quasi wie im Comic-Strip zeichnet Haas eine kurze Bilderfolge, in der er kurze Momente festhält, pointiert und verstört. Denn hier treten Alltagstypen auf, denen der Pachtvertrag mit dem Glück nicht verlängert wurde. Am Abgrund spielt auch die Szene „1985“, die sich so direkt in Fitzgerald Kusz’ Burning Love einschmuggeln könnte. So wie »Andi und Anschi« des Nürnberger Dramatikers auf der Autobahnbrücke herumhängen und Teenieprobleme wälzen, warten Gitta und Andi an einer Bushaltestelle im Nirgendwo der Provinz. Auch hier sind junge Menschen mit ihren Problemen auf sich gestellt. Was in ihnen vorgeht, was sie bewegt und bedrückt, bekommt ein Klassenlehrer während des Unterrichts nicht mit.

Die titelgebende Erzählung »Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember« ist eine Vorher-Später-Erzählung. Die heile Welt, die die Hauptperson, ein Herr Gastler, herbeisehnt, als er ein altes Gemälde, das der Vater nach dem Krieg erworben hat, nach langer Zeit wieder hervorkramt, täuscht. Gastler rastet aus. Wozu er in seiner Wut fähig ist, kann er selbst kaum fassen. Ist das auch ein halbes Jahr später noch so?

Christoph Haas versammelt in seinem Band unterschiedlichste Texte – fast hält man sie für beliebig zusammengewürfelt: die Familienrunde kurz nach dem Krieg, eine weitere als Variation eines alten schwarz-weiß Streifens von Hitchcock, dem »Fenster zum Hof«. Oder handelt es sich hier ganz einfach doch nur um Männerfantasie? Oder die Angst vor Kontrollverlust, wenn die Frau geht? Dann wird es biblisch mit einem kleinen Kind im Tempel, und es gibt Szenen der Panik, der Befreiung, der Lüge, des Doppellebens, aber auch der Rückwendung. »Du hast es versprochen. Damals.« Das Verbindende – vielleicht der lakonische Tonfall oder die versteckten Untiefen des scheinbar Alltäglichen?

Unglaublich und furchtbar, und doch wieder fast gewöhnlich die utopische Story »2049«. Hat sich der Typ einfach nur verkauft und die Garantiefrist verpasst oder braucht er zu seinem Glück den Abrechnungsversuch von »LollY«, einem futuristischen weiblichen Avatar, einer künstlichen, aus dem Takt geratenen Lolita. Eine Mischung aus Wunschtraum und »female revenche« à la »die Braut sieht rot«? Dem Münchner Schillo Verlag verdanken wir einen kleinen lesenswerten Band mit Miniaturen zum Zweimallesen!

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben:
Christoph Haas: Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember
München: Schillo Verlag 2020
140 Seiten. 17 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Foul Play

Nächster Artikel

Zuckerträume

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Popeye und Zuchtperlen

Kalender | Niklaus Gelpke (Hrsg.): mare Kulturkalender 2021
So viel hat mit dem Meer zu tun, Herman Melville meinte sogar einmal, dass es noch nie einen großen Mann gegeben hätte, der sein Leben lang auf dem Festland gelebt hätte. So weit muss man nicht unbedingt folgen, aber das Meer hat seine Faszination nie verloren. Vom Meer und der Kultur, die zum Meer gehört, erzählt auch der Kulturkalender aus dem mare Verlag. Von GEORG PATZER

Wenn der Zaunkönig singt

Kurzprosa | Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch »Wenn der Zaunkönig singt, dauert es nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang.« Diese kurze Phase will die Protagonistin in Hans-Ulrich Treichels neuer Erzählung Tagesanbruch nutzen, um sich von ihrem gerade verstorbenen Sohn zu verabschieden und gleichzeitig eine Lebensbeichte abzulegen. Von PETER MOHR

Von Engeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Von Engeln

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Ojo de Liebre lud ein zu bleiben, der Walfang war eh eine Weile ausgesetzt.

Der Mensch solle sich nicht wichtigtun, sagte Sanctus, er sei ein befristeter Aufenthaltsort, den Engel aufsuchten, um sich zu bewähren, die Menschen würden ihnen anvertraut und durch Höhen und Tiefen begleitet.

Die Männer waren überrascht. Sanctus ergriff selten das Wort, was wußte er über Engel.

Pirelli räusperte sich.

Der Ausguck stand behutsam auf, Engel, Schutzengel gar, das war nicht sein Thema, nach wenigen Schritten verschluckte ihn die Dunkelheit.

Der Ozean rauschte von ferne.

Skurril, sagte Thimbleman.

Von Rügen nach Rom

Kurzprosa | Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo »In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen.« Dieser Heidegger-Satz, den Hartmut Lange 1994 seinen Erzählungen ›Schnitzlers Würgeengel‹ vorangestellt hatte, könnte auch als Leitmotiv für den neuen, zehn Novellen umfassenden Band des Berliner Autors fungieren. Von PETER MOHR

Im Lager

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Im Lager

Bei den zwei verkümmerten Azaleen ging Lassberg zwei Schritte hangauf. Die leichte Böschung strandseitig entlang der Sichtschutzplane war im Spätsommer aufgeschüttet worden. Der Lärm der Raupen klang ihm im Ohr. Ich komme darauf zurück. Ein Erzähler muß das Geschehen ordnen.

Weshalb Bäume gesetzt wurden, das verstehe, wer will. Als ob Wasser beliebig verfügbar wäre. Die ersten Setzlinge waren nach wenigen Wochen vertrocknet. Besser hätte man zusätzlich Sonnendächer installiert, am späten Vormittag wird es brütend heiß.