Warten auf das Ende – Buchmesse-Schwerpunkt Spanien

Roman | Antonio Munoz Molina: Tage ohne Cecilia

Antonio Munoz Molina gehört zu den herausragenden zeitgenössischen spanischen Schriftstellern. Der 66-jährige Autor wird am 18. Oktober als Ehrengast Redner bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sein. Munoz Molina hat viele Jahre das Cervantes-Institut in New York geleitet und ist mit den meisten wichtigen Literaturpreisen Spaniens ausgezeichnet worden – bereits 1991 mit dem Premio planeta (den wichtigsten spanischen Literaturpreis) für den Roman Der polnische Reiter. Von PETER MOHR

Als ihm 2013 der Prinz-von-Asturien-Preis für Literatur verliehen wurde, rühmte man ihn für seinen »brillanten Stil« und die Fähigkeit »bedeutende Momente der Geschichte Spaniens, zeitgenössische Schlüsselereignisse und persönliche Erfahrungen in bewundernswerter Weise zu erzählen.«

Im letzten Jahr war in deutscher Übersetzung sein großartiges, ausschweifendes Assoziationsepos Gehen allein unter Menschen erschienen – es war weder ein Roman noch ein Essay, sondern ein verschlungener, hybrider Text, eine Art erzählerische Collage eines modernen Flaneurs.

Auch Munoz Molinas neuer Roman knüpft formal an diese Assoziationskomposition an. In 52 kurzen, lose miteinander verbundenen Kapiteln begleiten wir die Hauptfigur, den Frührentner Bruno, der sich in Lissabon niedergelassen hat. »Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten. Die Bedingungen könnten nicht besser sein.«

Mit diesem Satz, der ihm bei einem Spaziergang am Ufer des Tejo eingefallen sein soll, startet Munoz Molina in die Handlung. Daraus ist dann eine kaum greifbare Gefühlsmelange entstanden, die den gesamten Roman umgibt – das quälende Gefühl des Wartens.

Der Ich-Erzähler will sich sein Leben als Frührentner einrichten. Doch seine innere Verfassung, sein ständiges Nachdenken über Gott und die Welt, seine hypersensiblen Antennen für kleinste Veränderungen im Alltag sprechen gegen einen geordneten »Ruhestand«.

Seine Frau Cecilia lebt und arbeitet noch in den USA als Naturwissenschaftlerin im Team eines Nobelpreisträgers und forscht nach Möglichkeiten, »schlimme Erinnerungen bei Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung zu unterdrücken.« Und gerade diese Cecilia leidet selbst sehr stark an den Nachwirkungen des 11. September 2001. »Weit von uns entfernt stieg am südlichen Ende der Insel noch immer die große schwarze Wolke mit dem Flammenrot in ihrem Innern genau an der Stelle des Horizonts auf, an der vor ein paar Tagen, und später dann vor Wochen, die beiden Türme gestanden hatten. In Cecilias Träumen näherten sich die Flugzeuge im Tiefflug und rasten in einen Turm und danach in den anderen inmitten eines Feuerballs, immer wieder, so wie man es im Fernsehen sah. Wir erlebten das Ende der Welt direkt am Bildschirm des Fernsehers.«

Bruno sitzt in Gesellschaft seiner Hündin Luria in seiner Wohnung in Lissabon und sieht den Handwerkern bei den Renovierungsarbeiten zu. Alles soll so hergerichtet werden wie in der letzten gemeinsamen Wohnung.

Der Protagonist lässt immer wieder das Leben in den USA Revue passieren – Aids, den 11. September, wechselnde Präsidenten und die zunehmende Digitalisierung. Er sitzt oft nächtelang vor dem TV, konsumiert Nachrichtensender aus aller Welt und setzt sich damit einer Art negativen Reizüberflutung aus. Waldbrände, Überschwemmungen, immer mehr Hurrikans – der Klimawandel lässt grüßen.

Zu den Mahlzeiten legt er stets ein Gedeck für Cecilia auf – eine wahrlich seltsame Art des Wartens. Cecilias Abwesenheit erhält etwas Mysteriöses. Es gibt keinen wirklichen Kontakt – kein Telefon, keine Nachrichten via Internet, nicht einmal einen konkreten Zeitpunkt ihres Eintreffens.

Das Romanende soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Warten auf Cecilia ist ein gleichermaßen rätselhaftes wie liebevolles Buch über das turbulente Innenleben eines vereinsamten Außenseiters. Wirklich eines, das unter die Haut geht. »Nachts sitze ich gerne in Cecilias Arbeitszimmer an ihrem Schreibtisch, vor mir die riesige Karte des menschlichen Gehirns.

| PETER MOHR

Titelangaben
Antonio Munoz Molina: Tage ohne Cecilia
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
München: Penguin 2022
272 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Antonio Munoz Molina in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Karl Marx in Rabat

Nächster Artikel

Dämmerung

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Stunde der Raketen

Roman | Robert Harris: Vergeltung

Man schreibt den November des Jahres 1944 und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Krieg jene besiegt, die ihn fünf Jahre zuvor begonnen haben. Doch Hitlers Deutsches Reich wähnt sich noch im Besitz einer Waffe, mit deren Hilfe alles anders kommen könnte. Die V2-Raketen sollen das Schicksal Deutschlands in letzter Minute wenden. Von mobilen Abschussrampen gen England geschickt, sind sie erst zu orten, wenn es längst zu spät ist. Eine Möglichkeit der Gegenwehr gibt es allerdings: die Startplätze der Raketen unmittelbar nach deren Abschuss unter Feuer nehmen. Doch wie soll man die finden? Von DIETMAR JACOBSEN

Money, Money, Money

Roman | Ernst Augustin: Gutes Geld (Neuauflage)

Im vergangenen Jahr ist Ernst Augustin 85 Jahre alt geworden. Gefeiert wurde der Schriftsteller damals nicht nur wegen seines Geburtstages, sondern auch wegen seines jüngsten Romans Robinsons blaues Haus. Die todheitere Robinsonade brachte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und ihren mittlerweile nahezu erblindeten Verfasser noch einmal in die Feuilletons dieses Landes. Von FLORIAN WELLE

Lebensverändernde Begegnungen und Dolce Vita

Roman | Benjamin Myers: Offene See

Der Roman ›Offene See‹ des Schriftstellers und Journalisten Benjamin Myers wurde 2020 als »Lieblingsbuch der Unabhängigen« ausgezeichnet. Er erzählt vom jungen Schulabgänger Robert aus einer Bergarbeitergegend in Nordengland, der nach dem Schulabschluss durch England wandert und dabei eine lebensverändernde Freundschaft mit der älteren Dame Dulcie Piper schließt. Von FLORIAN BIRNMEYER

Alles den Bach runter

Roman | Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo Er ist ein Spezialist für die Großwetterlage und scheitert an den kleinen Dingen. Er hat seine Mutter verloren und findet so etwas wie eine neue Familie. Man nennt ihn Matuschek und kennt nicht seinen Vornamen. Nach Onkalo ist vielleicht sein letztes Ziel, nur ein vermeintlicher Sehnsuchtsort. Kerstin Preiwuß inszeniert ihren zweiten Roman in einem vergessenen Landstrich der Verlierer und Abgehängten. Von INGEBORG JAISER

Sch’majas Traum

Roman | Jim Shepard: Aron und der König der Kinder Jim Shepard ist es gelungen, einen bedrückenden und anrührenden Bildungsroman inmitten des Grauen und der Wirren des Warschauer Ghettos zu platzieren. In Aron und der König der Kinder versucht der Simpel Aron alias Sch’maja in der furchtbaren Zeit der Deportation zu überleben und seine Familie zu schützen. Natürlich gelingt ihm beides nicht. VIOLA STOCKER las einen Roman über Menschwerdung in der Hölle.