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Die Griechen schreiben schon wieder Geschichte

Roman | Petros Markaris: Verschwörung

Kostas Charitos im Homeoffice? Wäre schön, aber das Verbrechen pausiert nicht während der Pandemie. Im Gegenteil. Gerade der Lockdown scheint sich auf dunkle Existenzen anziehend auszuwirken. Und so ist Athens Stellvertretender Kriminaldirektor auch schon bald wieder mit der Aufklärung heimtückischer Morde beschäftigt. Die diesmal – wie könnte es anders sein – einen bekannten Epidemiologen und den Fahrer eines Impfstofftransporters ins Jenseits befördern. Auch im 14. Fall für seinen bodenständigen Helden bleibt Petros Markaris dem Zeitgeschehen auf der Spur und verhehlt nicht seine Sympathie für diejenigen, die auch während des Lockdowns am wenigsten zu lachen haben und ihren Protest auf ganz eigene Art ausdrücken. Von DIETMAR JACOBSEN

»Es lebe die Bewegung der Selbstmörder!«, lautet der Slogan, mit dem es Vizepolizeidirektor Kostas Charitos und die Athener Mordkommission zu tun bekommen, als sie mit drei kurz nacheinander verübten Suiziden in der griechischen Metropole konfrontiert werden. Immer sind die Opfer weit über 90 Jahre alt. Und stets geht nach der Tat ein Bekennerschreiben ein, in dem die Männer ihr Leben Revue passieren lassen, auf verlorene Kämpfe zurückblicken und die heute Lebenden auffordern, aus der Vergangenheit zu lernen und sich gegen die Zumutungen der Gegenwart zur Wehr zu setzen.

Selbstmörder sind unverwundbar

Natürlich ist die Aufregung rund um die Suizide groß. Rechnet man im Innenministerium und bei den Verantwortlichen für die innere Sicherheit des Landes doch ohnehin mit öffentlichen Protesten gegen all die Unannehmlichkeiten, die der Lockdown mit sich bringt. Auf eine Selbstmordwelle unter Greisen ist man freilich nicht gefasst. Allerdings auch nicht darauf, wie intelligent und gewaltfrei die Protestaktionen verlaufen, die jeweils im Anschluss an die Suizide stattfinden und den Ordnungsmächten nicht den geringsten Vorwand zum Eingreifen liefern.

Ladenbesitzer setzen sich in die Schaufenster ihrer geschlossenen Geschäfte und machen auf um den Hals gehängten Schildern auf ihre prekäre wirtschaftliche Lage aufmerksam. Geschlossene Cafés bieten im Gedenken an die Verstorbenen und deren Vermächtnis Kaffee zum Mitnehmen auf dem Bürgersteig an. Ein ganzer Straßenzug wird mit Flugblättern überschwemmt. Doch niemand verletzt die Corona-Regeln, alle Aktionen bleiben friedlich, so dass ein Eingreifen der Polizei nicht nötig ist – es sind tatsächlich »die originellsten Demos aller Zeiten«. Oder wie es Kostas Charitos, nachdem er die stummen Proteste der Ladenbesitzer gegen ihre wirtschaftliche Misère mit eigenen Augen gesehen hat, formuliert: »Und schon wieder schreiben die Griechen Geschichte.«

Gescheitert an den Enkeln

Als Charitos schließlich nach einem Hinweis seines Freundes, des Altlinken Lambros Sissis, dem greisen Organisator des Ganzen gegenübersteht, kann er seinen Respekt vor dem Mann nicht verhehlen. Und dessen Argumente – »Heute und in unserem Alter sind wir […] nicht mehr in der Lage, die Unterdrückten und Ausgebeuteten zu mobilisieren. Unsere einzige Waffe ist der kleine Rest Leben, der uns noch bleibt.« – machen ihn traurig und bestürzt zugleich.

Was dann freilich kommt, hat mit den stillen und friedlichen Protesten, die die »Bewegung der Selbstmörder« ins Leben rief, nicht das Geringste mehr zu tun. Denn plötzlich ist Gewalt im Spiel. Dabei berufen sich auch jene, welche sich die »Kämpfer von 2021« nennen, auf die Vergangenheit, indem sie das 200-jährige Jubiläum der griechischen Revolution von 1821 zum Anlass nehmen, eine neue revolutionäre Bewegung mit dem »obersten Angriffsziel« von Impfung und Maskenpflicht auszurufen.

Doch ihre Aktionen unterscheiden sich von denen der Alten fundamental. Es beginnt mit dem brutalen Überfall auf einen Transporter, der Impfstoff befördert. Der Fahrer wird getötet, die Ladung vernichtet. Das zweite Opfer ist ein landesweit bekannter Epidemiologe, den man vor seinem Haus kaltblütig erschlägt. Weitere Attacken auf Impfstofflieferungen und einen prominenten Arzt können gerade noch verhindert werden. Und während Charitos und die Seinen plötzlich alle Hände voll zu tun haben, wird man bei der Polizeiführung und im Ministerium des Inneren immer nervöser und drängt auf Ergebnisse.

Ein Roman an den Problemen der Zeit

Verschwörung ist wie seine 13 Vorgänger ein Roman ganz dicht an den Problemen der Zeit, in der er angesiedelt ist. Und die ist wahrlich mit der Corona-Pandemie und den staatlicherseits gegen sie ergriffenen, den gewohnten Lebensablauf jedes Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben gehörig durcheinanderbringenden Maßnahmen keine leichte. Auch Markaris‘ Figuren fragen sich gelegentlich, ob der Staat seine Fürsorglichkeit nicht übertreibt und zu rigoros in das Leben jedes einzelnen Bürgers eingreift.

Und dass es durchaus diskutable Einwände gegen die neuen Impfstoffe gibt, verschweigt der Roman auch nicht, indem er seinen Helden Rat bei Kollegen seines als Arzt tätigen Schwiegersohns einholen lässt. Gestresste Kinder – nicht zuletzt Lambros, der inzwischen zwei Jahre alte Enkel des Polizisten –, allgegenwärtige Fernseh-Experten – »Vom Frühstücksfernsehen über die mittäglichen Talkshows bis zu den Abendnachrichten treten ständig Ärzte auf, die öffentlich ihre Meinung kundtun.« – militante Verschwörungstheoretiker mit abstrusen Argumenten und Arbeiter und Angestellte, die ihre existenziellen Grundlagen langsam schwinden sehen – Verschwörung lässt nichts aus, was die hinter uns liegenden zwei Jahre der Pandemie zu einer ungeheuren Herausforderung für jeden Einzelnen gemacht haben.

Jenseits dessen ist der Roman auch das Eingeständnis zweier Niederlagen. Einer Niederlage der Alten, die einst angetreten waren, gleiche Rechte für alle einzufordern, und einer Niederlage der Jungen, die aus den verlorenen Kämpfen der Alten nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen haben. »Wir haben uns zu sehr auf die Ernte konzentriert. Wir haben zu spät begriffen, dass man erst säen muss, bevor man ernten kann«, lässt Petros Markaris Lambros Sissis, den Altlinken und Freund der Familie Charitos, klagen. Dem würde mit Sicherheit auch der heute 85-jährige Autor zustimmen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Petros Markaris: Verschwörung
Ein Fall für Kostas Charitos
Zürich: Diogenes 2022
280 Seiten, 25 Euro
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| Leseprobe
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