//

Heimat wehrt sich in uns

Menschen | Zum 90. Geburtstag des Regisseurs Edgar Reitz

Der bekannte Filmregisseur Edgar Reitz ist fremdgegangen und hat pünktlich zu seinem 90. Geburtstag einen opulenten Band mit Lebenserinnerungen veröffentlicht. Selbstverständlich spielt in diesem Buch auch seine Arbeit als hochgelobter Filmregisseur eine zentrale Rolle. Von PETER MOHR

Ein Foto des Regisseurs Edgar Reitz»Wir wollen ja nicht in der Enge des Horizontes, in den wir mal geboren werden, für alle Zeiten bleiben, vor allem wir modernen Menschen nicht. Aber die Heimat wehrt sich in uns, sie krallt einen, hält einen fest. Da entstehen Bindungskräfte«, hatte Edgar Reitz 2020 in einem SWR-Interview erklärt.

Inzwischen ist sich Reitz bewusst, dass der Begriff »Heimat« ambivalente Gefühle und kontroverse Diskussionen auslöst. »Reitz hat dem Hunsrück und seinen Bewohnern weltweit einen Platz in der Filmgeschichte gesichert und den vorbelasteten Begriff Heimat ästhetisch wie inhaltlich neu definiert«, hieß es im Jahr 2000 in der Jurybegründung, als ihm der Staatskunstpreis Rheinland-Pfalz verliehen wurde. Seine Heimatgemeinde Simmern verlieh ihm die Ehrenbürgerschaft und gewährte ihm ein lebenslanges Wohnrecht im Schinderhannes-Turm.

Edgar Reitz, der am 1. November 1932 im Hunsrückdorf Morbach als Sohn eines Arztes geboren wurde und später Theater- und Kunstgeschichte studierte, ist als Regisseur ein überaus erfolgreicher »Geschichtenerzähler«, dem es am Herzen liegt, Geschichte verständlich zu machen – aus dem Blick von unten, aus der Perspektive der einfachen Leute.

Mit seinem filmischen Monumentalepos ›Heimat‹, das an Fassbinders ›Berlin Alexanderplatz‹ erinnert, schaffte er 1984 den großen Durchbruch. Reitz begleitet die Bewohner eines Hunsrückdorfes, vor allem aber die Familie des Kriegsheimkehrers Paul Simon, durch ihr Leben. Die für heutige TV-Zuschauer langatmige, aber dennoch fesselnde Handlung setzt nach dem Ersten Weltkrieg ein und endet nach der 11. Folge in der Gegenwart der 1980er Jahre. Die Verflechtung des individuellen Leids mit den zeitgeschichtlichen Zäsuren, Reitz‘ subtiles Gespür für Details, und das sorgfältige Wechselspiel zwischen Schwarz-Weiß- und Farbbildern fand sowohl beim Publikum (weltweit über 100 Millionen Zuschauer) als auch bei der Kritik (u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet) ein nachhaltiges Echo.

Begonnen hatte der Wahl-Münchener, der mit seiner dritten Ehefrau, der Sängerin und Schauspielerin Salome Kammer in Schwabing lebt, mit anspruchsvollen Werbefilmen, die ihm früh die materielle Unabhängigkeit für seine filmische Pionierarbeit verschafften.

Im Gegensatz zum Publikum war die internationale Filmkritik schon früh auf Reitz aufmerksam geworden. Sein erster Spielfilm ›Mahlzeiten‹ (1966) wurde in Venedig einst als »bester Debütfilm« ausgezeichnet.

Die intellektuell anspruchsvollere Fortsetzung der Jahrhundert-Chronik (›Die zweite Heimat‹, u.a. mit Veronica Ferres und Hannelore Hoger), in der die Musik eine zentrale Rolle einnimmt, wurde 1992 im Ausland hymnisch gefeiert, aber in Deutschland war sie ein Bildschirm-Flop.

Doch Edgar Reitz ließ sich von derlei Rückschlägen nicht unterkriegen und inszenierte 2004 eine dritte ›Heimat‹-Staffel – mit dem Arbeitstitel ›Chronik einer Zeitenwende‹. Deutsche Biografien kreuzen sich darin unweit der Loreley, wo das Gros des Films gedreht wurde. Die geografische Nähe zum Hunsrück war alles andere als Zufall. Als Co-Autor hatte Reitz den in der ehemaligen DDR aufgewachsenen Schriftsteller Thomas Brussig (›Helden wie wir‹, ›Am kürzeren Ende der Sonnenallee‹) gewinnen können. Der »Ostexperte«, immerhin 33 Jahre jünger als Reitz, war begeistert von der Zusammenarbeit. »Ich denke, dass Edgar Reitz mit seinem Feuereifer und seiner geistigen Beweglichkeit zu den jüngsten Filmemachern Deutschlands gehört«, hatte Brussig einst den Jubilar gelobt.

Und er arbeitete mit ungebrochenem Elan weiter. 2013 erschien ein rund dreistündiger Spielfilm über die Auswandererwelle aus dem Hunsrück nach Brasilien mit dem Titel ›Die andere Heimat‹.

»Es gibt etwas, von dem ich behaupte, es erfunden zu haben: Das ist diese Form der fiktiven Chronik«, erklärte Reitz. Diese unkonventionelle Mischung macht wahrscheinlich seinen großen Erfolg aus. Nun hat er viele Anekdoten, Selbstzeugnisse und Erinnerungen aus seiner langen, ereignisreichen Karriere in Buchform vorgelegt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit
Erinnerungen
Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2022
672 Seiten, 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

  1. Sehr angemessen, voller Respekt und Wertschätzung geschrieben… ich verbeuge mich tief… vor dem beeindruckenden Lebenswerk von Edgar Reitz. Thomas K. Diplom- Psychologe aus Wolfsburg

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Jesus besucht Berlin

Nächster Artikel

Introiten

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Dead Men Walking

Film | The Walking Dead – Fantasy Filmfest Special »Don’t be afraid, littel girl«, ruft Rick zu dem herumirrenden Kind. Leichen liegen um ihn herum vor der verlassenen Tankstelle. The Walking Dead streifen durch die entvölkerten USA, hungrig auf die vereinzelten Überlebenden der Zombie-Seuche, die Frank Darabont im makellosen Pilot-Film seiner Serien-Adaption des gleichnamigen Comics von Robert Kirkmann, Tony Moore und Charlie Adlard mit grausamer Willkür über eine Handvoll Figuren hereinbrechen lässt. LIDA BACH folgte den filmischen Zombies auf dem Fantasyfilm Festival.

Offen-verworren und brillant-stringent

Film | Neu auf DVD: Die Wolken von Sils Maria Sils Maria ist ein Ortsteil von Sils, welcher in der Schweiz, Kanton Graubünden liegt. Dank des angenehmen Klimas und der schönen Lage zog es viele Schöngeister dorthin, die in Ruhe ihre Inspiration finden wollten. So auch der Regisseur Wilhelm Melchior, welcher eine Neuauflage seines erfolgreichen Theaterstückes ›Die Malojaschlange‹ plant. Von ANNIKA RISSE

’s ist Weihnacht

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Weihnachtsgeld (SR), 26. Dezember, 20.15 Uhr »Erdrosselung ist ein ziemlich zeitaufwendiger und kräftezehrender Vorgang«. Wir merken sofort, in ›Weihnachtsgeld‹ steht nüchterne Ermittlung im Vordergrund. Das ist absolut unverzichtbar, um einer zuvor nicht erlebten Fülle von Verwicklungen Herr zu werden. Von WOLF SENFF

Sie wollen doch nur spielen…

Film | Neu im Kino: Spieltrieb Am 10. Oktober läuft die mit Spannung erwartete Verfilmung von Spieltrieb in den Kinos an. Juli Zehs Roman um zwei Jugendliche im Strudel von Liebe, Begierde und Manipulation machte 2004 Furore. Nun ist Regisseur Gregor Schnitzler (Resturlaub, Soloalbum) eine eindrückliche Umsetzung des Bestsellers gelungen – vor allem dank seiner beiden jungen Hauptdarsteller. Von VOJKO HOCHSTÄTTER

Die Unbeugsamen

Film | Fimfestival Mannheim-Heidelberg. Marine Place: Souffler plus fort que la mer Er habe, so Michael Kötz, künstlerischer Direktor des Fimfestivals Mannheim-Heidelberg, in seiner Begrüßung zur Aufführung von Souffler plus fort que la mer, nicht damit gerechnet, daß der kapitalismuskritische Film überhaupt noch lebe. Doch hier sei der Beleg für dessen Existenz. Er habe sich zwar geändert, sei poetischer geworden. Aber er lebe. Von DIDIER CALME