Um die Meere und ihre Seefahrer ranken sich sagenumwobene Mythen, von Kaventsmännern, weißen Wänden und den drei Schwestern. In den vermeintlich gezähmten Naturgewalten suchen viele Festlandbewohner ihr kleines Inselglück, das dennoch meistens trügt. »Die Nordsee ist für sie ein Freizeitpark mit Fahrgeschäften. Sie glauben, alles sei gebucht: Gezeiten, Nebel, Strömungen und Sturm.« Dörte Hansen erzählt in ihrem neuen Roman Zur See von Verirrten und Gestrandeten, Ungetrösteten und Unerhörten. Ein modernes Sittengemälde vor stürmischem Grund. Von INGEBORG JAISER
Eines war von vornherein klar: Dörte Hansens dritter Roman – nach dem Überraschungserfolg ihres Debüts Altes Land (2015) und der kürzlichen Verfilmung von Mittagsstunde (2018) – würde zum Bestseller prädestiniert sein. Anfangs vom Feuilleton kaum wahrgenommen, avancierte die in Husum geborene Autorin jedoch auf Anhieb zum Liebling der Leser und des Buchhandels, der ihr Schaffen mehrfach kürte. Wie bereits die Vorgängerromane ist auch Zur See im Norddeutschland angesiedelt, wenngleich ein Stückchen weiter draußen, mitten auf einer Insel.
Falsches Idyll hinter Rosenhecken
Die Nordseeinsel mit ihrem weiten Blick und der vermeintlichen Freiheit als Sehnsuchtsort vieler Festlandbewohner. Doch für die Einheimischen eine Insel im wechselvollen Umbruch zwischen Tradition und Neubeginn. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Geschehen, das den Zeitraum eines Jahres und die Geschichte einer Familie erzählt, die ein Leben mit den Badegästen, mit den »Ausgebrannten und Asthmatikern und Erschöpften« verbracht hat. »Im Sommer teilte man den Strand, die Seeluft und den Wind mit ihnen, und im September klopfte man die Fremden ab wie Sand von einem Kleid – auch das war ein Gesetz auf dieser Insel, so verlässlich wie der Zug der Vögel«.
Die Sanders entstammen einem alten Geschlecht von Grönlandfahrern und Walfängern. Von Männern, die das große Frieren kennen und ewig wartenden Frauen, die Ausschau halten, »nach einem Schiff, das kommen wird oder auch nicht.« Sie gehören zu einem rauen, wortkargen Menschenschlag, der hier seit drei Jahrhunderten lebt. So auch Hanne Sander in ihrem »Kalenderhaus«, das vermutlich öfter abgelichtet wird wie der Leuchtturm, die Vogelkoje oder andere Wahrzeichen der Insel, mit seinen Muschelschalenbeeten, den Delfter Kacheln und dem Zaun aus Walfischknochen. Das vermeintliche Idyll ist trügerisch, auch wenn es manchen Festlandbewohner zu falschen Entscheidungen verleitet. »Ein Haus am Meer gekauft. Das Luftschloss festgemacht mit Backstein, Rosenhecke und Alarmanlage. Und dann ernüchtert festgestellt, dass es nicht schwebt.«
Verlorene und Gestrandete
Ernüchterung auch bei den Einheimischen. Auf einer Insel lässt sich nichts verbergen. Nicht die Tatsache, dass Hanne Sander in Tracht und Perlenhaube »wie ein dekorierter General« Touristen durch ihr ehemaliges Elternhaus schleust und sie mit Inselfolklore einlullt. Während ihr Ehemann Jens seit zwei Jahrzehnten wie ein verwahrloster Eremit, vom Tremor durchgeschüttelt, als gerade so geduldeter »Vogelkönig« auf Driftland haust. Auch die drei Kinder fliehen: Altenpflegerin Eske zu Heavy Metal und großflächigen Tätowierungen. Der nach einem Schiffsunglück abgemusterte Sohn Ryckmer zu akribisch geführten Fluttabellen und Alkoholexzessen. Und Henrik, der Jüngste, zu wundersamen Artefakten, die er aus angeschwemmtem Treibgut zusammenzimmert. Die neu zugezogene Kunstversteher-Schickeria zahlt viel Geld, »um sich die Gärten und die Zimmer ihrer durchsanierten Inselhäuser mit seinen Vogelscheuchen zu verschandeln.«
Falsch abgebogen
Einen ganz besonderen Sound hat Dörte Hansen für dieses Buch gefunden, rhythmisch, fließend, an- und abschwellend wie die Meeresbrandung. Er umschmeichelt einen beim Lesen und spuckt doch nebenbei eine Brise milden Spott und Ironie mit aus. Dem Inselleben als falschem, klischeebeladenem Idyll stellt sich eine ungeschönte Milieustudie entgegen, herb und wenig romantisch. Da lässt sich mancher Mythos korrigieren, den wir Festlandbewohner auf unsere Sehnsuchtsorte projizieren und dabei nur einem Irrtum unterliegen. Wohl bewusst hat Dörte Hansen ihren Roman auf einer namenlosen Insel angesiedelt – die einen mögen Amrum darin erkennen, die anderen vielleicht Borkum, die Dritten gar entfernte Provinz. Denn die Konflikte der Familie Sander sind universell. Als im neuen Jahr ein verirrter Pottwal angespült wird, der auf seinem Weg in den Süden »irgendwann falsch abgebogen« ist, verschieben sich die Koordinaten. Die Dorfgemeinschaft und die Familie Sander formieren sich neu. Doch Gestrandete bleiben sie alle, jeder auf seine Art.
Titelangaben
Dörte Hansen: Zur See
München: Penguin 2022
255 Seiten. 24 Euro
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