»Du siehst aus wie eine Vogelscheuche!« Wer dieses zweifelhafte Kompliment hört, sollte vielleicht etwas an seinem Äußeren ändern. Die Vogelscheuche, um die es in diesem ansprechenden Bilderbuch geht, wird man am Ende des Buches ins Herz schließen, hat BARBARA WEGMANN erfahren.
In der Natur sieht man sie eigentlich nur noch sehr selten: jene Vogelscheuchen als menschenähnliches Gebilde aus einer Stange, an der ein Körper mit ausgebreiteten Armen hängt. Mitten aufs Feld oder in ein Anbaugebiet wird sie gestellt und soll Vögel verscheuchen, die an die Leckereien wie Samen und Früchte und jungen Triebe heranwollen. Meist flattern noch Bänder im Wind, was die Abschreckung für Vögel erhöht.
In diesem Buch lernen wir eine ganz andere, sympathische Vogelscheuche kennen: sie sieht nicht nur menschlich aus, sie hat auch menschliche Züge, kann sich bewegen, hat ein Herz, Gefühle, ist traurig und glücklich. Eine Vogelscheuche, die man gerne zum Freund hätte.
Aber beginnen wir vorne: »Wenn warm im Herbst die Sonne lacht, wird bald die Ernte eingebracht. Die Vogelscheuche steht und wacht, gibt auf die goldnen Ballen acht.« Ganz allein ist sie, alle schreckt sie ab, niemand will mit ihr befreundet sein, alle bleiben auf Distanz. Auch im kalten Winter bleibt sie allein. »Fällt flüsternd Schnee auf Feld und Bäume, verliert sie sich in ihre Träume.«
Dann, an einem Frühjahrstag, ist plötzlich dieses kleine Wesen da: ein Krähenkind, das noch nicht fliegen kann und vermutlich aus dem Nest gefallen ist. Und da schmilzt das Vogelscheuchenherz. Sie hebt das Vogelküken auf‚ »bettet es sanft in ihren Armen« und zieht es groß.
»Die Nähe tut den beiden gut, sie wärmt und spendet neuen Mut. Obwohl sie so verschieden sind, wächst eine Freundschaft – ganz geschwind.«
Das klingt so, als wäre die Geschichte damit schon zu Ende. Aber nein, bevor es ein Happy End gibt, erlebt die Vogelscheuche noch eine Menge Traurigkeit, Saison für Saison. Besonders im tiefen Winter. »Allein, mag’s stürmen oder schnei’n. Leere ist in ihr Herz gekrochen. Diese Last hätte fast ihre Stange gebrochen.«
Eine Vogelscheuche, die lebendig wird, was für eine bezaubernde Geschichte – illustriert von Kanadas erfolgreichsten und preisgekrönten Illustratoren, den Fan-Brüdern. Was der Text von Freundschaft, vom ein Herz für andere haben, von Fürsorge und für andere da sein erzählt, spiegeln die Bilder in allen atmosphärischen Gelb-, Braun- und Sandtönen wider, die ein Sommer und ein Herbst nur bieten können. Warme Farben, die für warme Gefühle stehen. Und eine Vogelscheuche, die plötzlich lachen kann, emotionale Regungen zeigt, sich bewegt, ein Vogelbaby rettet und aufzieht. Ein lyrischer Text, der sich schnell klangvoll in die Ohren schmiegt, und eine Geschichte, die wunderbar zeigt, dass oft auch dort Freundschaften entstehen können, wo niemand sie vermutet. Dass auch dort Hilfe und Fürsorge sich zeigen können, wo sie völlig unmöglich scheinen. Eine Vogelscheuche, die sich kleiner Vogelbabys annimmt, wo sie doch nur starr an einer Stange hängt, das geht gar nicht. Aber in einer wunderbaren Bilderbuchgeschichte wie dieser ist eben alles möglich.
Titelangaben
Beth Ferry: Die Vogelscheuche
(The Scarecrow, 2019)
Illustriert von Terry und Eric Fan
Übersetzt von Ulrich Störiko-Blume
Zürich: Atrium 2022
44 Seiten, 14 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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