Kinderbuch | Katherine Applegate: Crenshaw. Einmal schwarzer Kater
Kinder vor Schlimmem zu schützen, versteht sich von selbst. Allerdings kann der Schutz auch fehlgehen. Zum Beispiel dann, wenn Eltern sich selbst nicht eingestehen wollen, wie die Sache steht. Wer damit fertig werden muss, sind ausgerechnet die Kinder. Ein tolles Thema für ein Kinderbuch. Leider hat sich die Autorin Katherine Applegate dabei gründlich verlaufen. Von MAGALI HEISSLER
Jackson, fast zehn, mag Fakten. Schließlich will er einmal Wissenschaftler werden. Besonders angetan hat es ihm die Tierwelt, da gibt es viel zu staunen. Aber gleich, wie fantastisch es klingt, alles ist wahr.
In seinem Familienleben ist das anders. Staunen kann er da auch über vieles, nur ob das wahr ist, ist nicht recht zu entscheiden. Das hieße nämlich, sich eingestehen, dass die Eltern ihn und die kleine Schwester Robin anlügen. Darüber möchte Jackson nicht nachdenken.
Die Entscheidung liegt allerdings nicht bei ihm, Crenshaw taucht nämlich auf. Crenshaw ist ein Kater, aber groß wie ein Mensch. Finger hat er auch und er badet gern in der Badewanne. Fliegen kann er oder aus dem Nichts entstehen. Sprechen sowieso. Crenshaw ist nicht echt, Jackson weiß das. Schließlich hat er selbst das Wundertier als kleines Kind erfunden, seinen unsichtbaren Freund. Aber inzwischen ist er doch kein kleines Kind mehr, was soll da die Fantasiegestalt in seinem Leben? Weg damit, sagt Jackson, doch Crenshaw lässt sich nicht wegdenken. Im Gegenteil stellt er Forderungen. Er will, dass endlich die Wahrheit gesagt wird in der Familie.
Verrückt!, denkt Jackson. Oder vielleicht doch die Lösung seiner Probleme?
Wenn Komplexität zum Irrgarten wird
Applegate schildert den Abstieg einer normalen US-amerikanischen Mittelstandsfamilie in die Armut. Es geht schnell, die Eltern verlieren ihre Arbeitsplätze. Ebenso schnell ist das Geld knapp, das Haus muss aufgegeben werden. Aber auch in der Mietwohnung sind die Vorratsschränke leer, das Essen besteht viel zu häufig aus trockenen Cornflakes. Die Möbel wie die Spielsachen wurden zum größten Teil verkauft. Als der Vater schließlich an MS erkrankt, wird die Lage katastrophal.
Die Charakterisierung der Figuren ist Applegate sehr gut gelungen, besonders ihr stetes Kaschieren der Probleme. Noch die bittersten Einschnitte kommentieren die Eltern mit munteren oder vermeintlich lebensklugen Sprüchen, sie sind wohlfeil in dieser Familie. Jackson passt sich an, obwohl ihn das Coolsein verunsichert. Crenshaw ist die psychische Hilfe für ein Kind, dem die Eltern nicht beistehen, während sie fest überzeugt sind, dass sie mit Verschweigen das Beste tun.
Allerdings verschweigen sie das Problem auch vor sich selbst; hier wird die Handlung tatsächlich sehr komplex – und zu Recht so -, aber hier geht Applegate auch in die Irre. Es ist leider falscher Stolz, der die Eltern hindert, Hilfe zu suchen. Dazu kommt ein kaum erträgliches sentimentales Bild von »Liebe« innerhalb von Familien. Gemeint ist aber ausschließlich die Kernfamilie. Schon die Großeltern um Hilfe bitten, wird als unmöglich abgetan. »Dann sind wir Versager«, tönt der Vater an einer Stelle. Eine schreckliche Einstellung und nicht nur für einen maßlosen Egoisten, als der er sich ganz gegen die Absichten der Autorin dann herausstellt.
»Realität« als Ideologie
Was Applegate predigt, ist der alte Traum vom materiellen Aufstieg des Individuums allein durch persönliche Leistung. Nur das zählt. Es gibt keine Gesellschaft, keine Zusammenhänge. Man muss sich durchboxen, wer arbeitslos oder gar krank wird, hat versagt. Aber das wird alles erträglich, wenn man nur eine liebende Familie ist.
Katalysator ist ein Neunjähriger, der Erfahrungen verarbeiten muss, der die Erwachsenen in dieser Geschichte elegant ausweichen. Jackson meistert die Herausforderungen mit Bravour. Er hat ja seine fantastische Wunderkatze an der Seite. Seine Rolle, ebenso wie die seiner kleinen Schwester, weckt unangenehme Erinnerungen an den Topos des Kinds als Heilsbringer, wie es in sehr alten Kinderbüchern vorkam.
Die Autorin fordert den Kindern Anpassungsleistungen ab, die vor allem deswegen skandalöse Anforderungen sind, weil ihre erwachsenen Figuren ungehemmt verantwortungslos sein dürfen. Kinder hungern lassen, ist ehrenvoller, als sich an die Großeltern zu wenden oder gar, o, Schreck, o, Graus, an das bisschen, was in den USA als Wohlfahrt gilt. Spielsachen und Möbel, einschließlich aller Betten werden verkauft. Vaters Gitarre – eine Jackson – dagegen bis aufs Blut verteidigt. Gelebt wird wochenlang in der Enge des Minivans, der Tenor, dass es anderen noch schlechter geht, ist zelebrierte Selbstgefälligkeit.
Applegate beschreibt die Empfindungen der Kinder während der schlimmen Phasen eingehend und genau, ein eindeutiges Plus an dieser völlig schiefen Geschichte. Ein weiteres Plus ist die Fantasiegestalt Crenshaw, die sich immer wieder mit Jacksons Vorliebe für Fakten reibt und damit das Thema wahr-unwahr noch einmal schön aufbereitet.
Am Ende wird das Familienproblem ausgesprochen, dafür gibt es gleich eine Belohnung. Sie ist vorübergehender Natur, gilt jedoch als Beweis dafür, dass es immer weitergeht auf dem eingeschlagenen Weg, dass man ohne gezielte, organisierte Hilfe weiterkommt. Schließlich gibt es nette Wohltäter. Womit die Geschichte endgültig im 19. Jahrhundert landet.
Ideologiebelastet, wie das Konstrukt ist, ist es tatsächlich keine Geschichte für Kinder. Es ist nicht einmal eine Geschichte über die Unsicherheiten des Lebens oder darüber, dass auch Eltern Fehler machen. Es ist ein seltsam halb altertümlich-klebriges, halb ehrlich-realistisches Gemisch, in dem ein Neunjähriger in einer Sprache, die ganz sicher nicht der eines Kinds entspricht, eine ebenso unkindliche gereifte Gedankenwelt an den Tag legt und reife Überlegungen äußert, die die Eltern schließlich zu einer einzigen Einsicht bringt. Was an der zerstörten ökonomischen Grundlage der Familie auch nichts ändert. Aber es wird bestimmt einmal besser. Irgendwann, irgendwie.
Und Kater können fliegen.
Titelangaben
Katherine Applegate: Crenshaw. Einmal schwarzer Kater
(Crenshaw, 2015) Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit
Frankfurt/Main: Fischer Sauerländer 2016
217 Seiten, 11,99 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
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