Die Erfolgsautorin Juli Zeh ist in den letzten Jahren zu einer Art literarischer Seismograf unseres politisch-gesellschaftlichen Alltags geworden. In ihrem letzten Roman Über Menschen (2021) hatte sie blitzschnell auf die Corona-Krise reagiert. Die zeitliche Nähe und das Abarbeiten von brisanten Alltagsthemen ist für einen Roman nicht unproblematisch, aber die routinierte Schriftstellerin Juli Zeh, die 2002 für ihren inzwischen in 35 Sprachen übersetzten Debütroman Adler und Engel den Deutschen Bücherpreis erhalten hatte, ist sich dieser Risiken bewusst. Für ihren neuen Roman Zwischen Welten hat sich die seit 2007 im brandenburgischen Dorf Bannewitz lebende 48-jährige Autorin den beinahe gleichaltrigen Simon Urban, der 2011 mit seinem Roman Plan D aufhorchen ließ, als Co-Autor gewählt. Herausgekommen ist ein zeitgenössischer Briefroman, die literarische Dokumentation einer fiktiven digitalen Korrespondenz via Mail und WhatsApp. Gelesen von PETER MOHR
Im Mittelpunkt stehen zwei Figuren, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Theresa Kallis hat nach dem Tod ihres Vaters einen Bio-Bauernhof in der brandenburgischen Provinz übernommen. Sie kämpft dort nicht nur ums finanzielle Überleben, sondern auch um den Erhalt ihrer Familie. Der Ehemann und die beiden Kinder kommen angesichts des 24-Stunden-Jobs auf dem Hof deutlich zu kurz.
Ihr gegenüber steht Stefan Jordan, Single und Kulturchef der meinungsprägenden Hamburger Wochenzeitung »Der Bote«. Die beiden kennen sich aus einer gemeinsamen WG-Zeit während des Germanistikstudiums in Münster. Nach mehr als zwei Jahrzehnten begegnen sie sich zufällig in Hamburg, doch das Wiedersehen erweist sich als ziemlich disharmonisch. Ihre Meinungsverschiedenheiten sind riesig groß. Trotzdem wollen sie in Kontakt bleiben. Gibt es dafür einen plausiblen Grund?
»Von außen betrachtet sind wir zwei ein ziemlicher Komödienstoff: du der Top-Journalist aus Hamburg, ich die Milchbäuerin aus der brandenburgischen Provinz. Könnte eine ganz lustige Story werden«, bemerkt Theresa.
Die Korrespondenz dieser höchst unterschiedlichen Figuren soll verschiedene Sichtweisen und kontroverse Standpunkte aufzeigen. Eine breite Palette an zeitgenössischen Streitthemen des öffentlichen Lebens werden durchdekliniert: der Rassismus im Alltag, die Corona-Maßnahmen, die Klima- und Landwirtschaftspolitik, das übereifrige Gendern in der Sprache, die Rolle der Medien und (ganz aktuell!) der Ukraine-Krieg.
Theresa und Stefan beschreiben einander auch ihre völlig verschiedenen Lebensumstände. 200 Milchkühe stehen Vernissagen gegenüber, körperliche Schwerstarbeit auf dem Land gegen abgehobenen intellektuellen Großstadthabitus. Gibt es überhaupt Schnittmengen zwischen Theresas Kampf ums finanzielle Überleben und dem neureichen Lebensumfeld des Feuilletonisten?
Stefan kommt arrogant und besserwisserisch, geradezu oberlehrerhaft daher. In seiner Redaktion kommt es wegen einer „Klima“-Sonderausgabe zu einer Palastrevolution – ausgelöst durch digitale Denunziationen. Stefan wird in der Folge Chefredakteur, feiert sich, den »Relauch« der Zeitung, die sich zeitgeistkonform nun »Bot*in« nennt, und den Opportunismus, die stärkste Strömung im Redaktions-Alltag, der durch die vergiftete Atmosphäre in den »sozialen Medien« nicht unwesentlich beeinflusst wird.
»Aus der digitalen Spaßgesellschaft ist eine Hassgesellschaft geworden«, konstatiert Stefan. Stimmt so. Aber auch Theresas beklemmendem Fazit kann man sich als Leser anschließen: »Man muss ja nur in den Supermarkt gehen. Aus dieser Perspektive sind Bauern ein lästiger Anachronismus. Wir sind eine nörgelnde Berufsgruppe am Rand der Wahrnehmungsschwelle.« Und wenn Juli Zehs Co-Autor Simon Urban resümiert, »wir sind besorgt über den Zustand der Debattenkultur in Deutschland«, dann gebührt auch ihm uneingeschränkte Zustimmung. Aber wussten wir das alles nicht schon vor der Lektüre dieses Romans?
Theresa verzweifelt schlussendlich im Kampf mit der Agrarbürokratie und schließt sich (auch wegen des Selbstmords eines befreundeten Bauern) radikalen politischen Kreisen an, die mit Gülle gefüllte Konservendosen in den Lebensmittelhandel schmuggeln. Aber diese Prise Humor kann den Roman auch nicht wirklich retten.
Zwischen Welten wirkt wie ein am Reißbrett entstandenes Modell. Aber final stellt sich die Frage, was hat diese beiden Personen, die so unterschiedlich sind und sich zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen haben, angetrieben, in einen solch ausufernden Diskurs »einzusteigen«. Diese Antwort liefert der Roman nicht. Die Figuren bleiben seltsam entrückt, wirkliche Nähe zu ihnen entsteht nicht. Sie kommen nicht über den Status von Thesen proklamierenden Kommunikationsmarionetten hinaus. Dieser Roman ist – um es verkürzt auszudrücken – gut gemeint, aber (leider) nicht gut gemacht.
Titelangaben
Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten
München: Luchterhand 2023
448 Seiten, 24 Euro
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