Wenn man sogar vom Haselnussstrauch verspottet wird, weiß man, dass etwas nicht stimmt. Wie gut, dass ein großer Baum eine andere Antwort weiß, und das Eichhörnchen ein bisschen tröstet. Werner Holzwarth und Mehrdad Zaeri erzählen eine berührende Alzheimergeschichte. Von GEORG PATZER
Meistens ist es gut, wenn man wiederfindet, was man versteckt hat. Manchmal aber auch nicht. Selbst wenn man sich darüber ärgert. So geht es auch dem Eichhörnchen: Es hat, wie alle Eichhörnchen, schon im Kleinkindalter gelernt, dass man im Herbst Nüsse sammeln und vergraben muss, damit man im Winter etwas zu essen hat. Und das macht es auch sehr fleißig, über tausend Nüsse vergräbt es, und da es ein gutes Gedächtnis hat, wird es im Winter richtig satt.
Aber dann, in den nächsten Wintern, passiert es immer häufiger, dass das Eichhörnchen die vergrabenen Nüsse nicht mehr findet. Am Anfang war es noch nicht so schlimm, aber letztes Jahr musste es sich schon sehr anstrengen, um satt zu werden. Und »schimpfte auf die blöden Nüsse, die nicht da waren, wo sie sein sollten.« Und dieses Jahr?
»Dieses Jahr schlich das alt gewordene Eichhörnchen müde über den Schnee, suchte und suchte. Und wusste manchmal gar nicht mehr, wonach.« Der Haselnussstrauch verspottet es: »Findet wohl seine Nüsse nicht mehr.« Aber der große Baum hat eine weise oder wenigstens für das Eichhörnchen tröstliche Antwort: »Wenn es alle fressen würde, die es vergraben hat, würde es uns nicht geben.«
Der berühmte Kinderbuchautor Werner Holzwarth hat mit »Der Winter des Eichhörnchens« eine melancholische Alzheimer-Geschichte geschrieben, eine Parabel über den Sinn des Lebens, der sich auch dann noch zeigen kann, wenn er schon verloren scheint. Denn in unserem menschlichen Alltagsleben zeigt sich so ein Sinn nicht, wenn wir, auch schon in jüngeren Jahren, in die Küche gehen und nicht mehr wissen, was wir da wollten, wenn wir im Alter unsere Schlüssel nicht mehr finden oder vergessen, dass wir etwas auf die Herdplatte gestellt haben.
Im Leben des Eichhörnchens aber ist es anders, denn dadurch, dass es Nüsse vergräbt, gibt es ihnen die Chance, zu einer großen Eiche zu werden oder einem Haselnussstrauch. Je mehr es nicht wiederfindet, desto mehr Bäume können wachsen. Und so dient seine Vergesslichkeit der Natur, dem ständigen Kreislauf von Werden und Vergehen. Und damit ist Holzwarths Parabel noch um einen Grad melancholischer und sogar düsterer, denn wir Menschen gehören zu diesem natürlichen Kreislauf nicht dazu.
Bildgewaltig sind die Illustrationen von Mehrdad Zaeri: Mit kräftigen Farben und klaren Strichen charakterisiert er das Eichhörnchen, zeichnet es, wie es naiv und fröhlich auf einer riesigen Nuss reitet, mitten in einem Laubbett. Lässt es die Äste hinauf und hinab klettern, eine Nuss im Schnäuzchen. Lässt es etwas frustriert gucken, als es nur eine leere Flasche aus dem tiefen Schnee zieht, und richtig wütend werden, als es einen alten Schuh findet, aber eben nicht seine Nüsse. Fast unbemerkt wird das Eichhörnchen in seiner Mimik älter und müder.
Zaeris Bilder sind atmosphärische Gemälde, die den Wald als eine zunehmend düstere und kahlkalte Welt erschaffen. Erst am tröstlichen Schluss verwandelt die Sonne durch ihre schneekalten, aber dennoch heiteren Strahlen die Szenerie zu etwas Hoffnungsvollem. Zusammengehörenden. Mit winzigen Details – Frost und Dunkelheit, Schneetreiben und vereisten Grashälmchen – zeigt er die kleine Welt des Eichhörnchens, die immer düsterer wird, während es immer mehr vergisst. So deutlich, dass man froh ist, wenn man das Buch unter einer kuschelwarmen Decke lesen kann.
Titelangaben
Werner Holzwarth: Der Winter des Eichhörnchens
Illustriert von Mehrdad Zaeri
Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2022
32 Seiten, 19 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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