Bücher, Bücher, Bücher: Und Begegnungen. Ein Gang über die 60. Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse Bologna. Endlich wieder Messe. Zwei Jahre ist sie ausgefallen, letztes Jahr haben wir uns noch nicht getraut. Und dann ist es wie immer: Gewusel und Gerede, Enge bei den italienischen Ständen gleich am Anfang, und der erste Besuch gilt den Koreanern: Wo ist Rachael Kim? Ist sie noch da? Jedes Jahr hat sie uns strahlend erwartet, hat uns Bücher gezeigt, übersetzt … Ohhh, da ist sie. Und will uns kaum loslassen: Drei Jahre haben wir uns nicht gesehen. Von SUSANNE MARSCHALL und GEORG PATZER
So geht es auf der ganzen Messe, überall, wo wir inzwischen Freunde haben, die wir jedes Jahr hier sehen. Sunkyung Cho, der am riesigen koreanischen Gemeinschaftsstand seine Künstler-Bücher ausstellt, auch dieses Jahr wieder sein Buch mit dem echten Stein in der Mitte und dem Titel: ›This is not a stone‹. Er strahlt, als er uns sieht. Jeden Tag. Und wir auch. Und verspricht, unsere Telefonnummer an Mauro Bellei weiterzugeben, der dieses Jahr keinen eigenen Stand hat. Anais Beaulieu, die früher bei den Pariser Bibliothekarinnen »Trois Ours« gearbeitet und jetzt ein außergewöhnliches Buch bei Tara Books veröffentlicht hat: Gestickte Pflanzen auf schwarzen Plastiktüten, die so genau und detailliert sind, dass es fast Fotografien sein könnten. Und Katsumi Komagata, einer der ganz großen, ungewöhnlichen Illustratoren Japans dessen feinsinniges und zartes Buch ›The Tree‹ das erste war, das wir auf der Messe gekäuft haben: Ein verzauberndes Kunstwerk, das in einer reduzierten und stillen Pop-up-Manier das Keimen eines Sämlings zeigt. Und Mauro Bellei, der plötzlich hinter uns steht. Auch bei ihm gab es immer wieder ungewöhnliche Bücher, die wir wie einen Schatz davongetragen haben.
Ja, die Bücher: Normalerweise gehen wir nicht von der Messe weg, ohne mindestens fünf gekauft zu haben. Mindestens. Vor allem die Gewinner der renommierten Bologna-Preise oder die »Special Mentions«. Dieses Jahr aber waren wir grade von denen ziemlich enttäuscht. Kein einziges hat uns wirklich angesprochen, weder vom Inhalt noch von den Illustrationen. So ging ›Moving Away‹ von Ji Yeon Lee von einer netten Idee aus: Ein paar Ameisen entdecken eine riesige, unüberschaubare Welt – die sich dann als kleines Gärtlein entpuppt. Das hatte man schon nach wenigen Seiten verstanden, der Rest der Geschichte ist deswegen vorhersehbar. Vielleicht hat die Messe die mangelnde Qualität selbst ein bisschen gespürt, denn statt nur die Gewinner ordentlich zu präsentieren, hingen in der Eingangshalle neben den üblichen Gewinnervitrinen 100 ausgewählte Bücher an Schnüren herab, »Amazing Bookshelf« hieß das, dabei war auch ›A Stitch Out Of Time‹ von Anais. Lesen konnte man die Bücher so allerdings nicht, denn es war zu eng, und das Gebaumel zu störend. Und bei den hinter Glas ausgestellten Gewinnern waren die Verlage nicht zu erkennen: Die Organisation hat bei dieser 60. Ausgabe doch schon etwas nachgelassen. (Von der Unfreundlichkeit und Inkompetenz der Presseabteilung wollen wir schon gar nicht reden.)Aber natürlich haben wir bei den koreanischen Verlagen auch diesmal etwas gefunden: die Preisträgerin vom letzten Jahr: Das großformatige »The Black Bird Poster Book« von Suzy Lees ist eine Geschichte ohne Worte über ein trauriges Mädchen, das einen Raben trifft und mit ihm das Fliegen lernt. In schwungvollen Schwarz-weiß-Lithografien verzaubert das Buch den Betrachter, bringt ihn selbst zum Schweben.
Einer der Höhepunkte war wie immer der (mehrfache) Besuch des Stands der Cambridge School of Art (Anglia Ruskin University). Hier ist uns aufgefallen, wie positiv die meisten Geschichten sind, die die Bücher der Magisterabschlussklasse erzählen. Auch hier waren uns viele Illustrationen etwas zu glatt und gefällig. In einem Buch von Elinor Duffy findet ein Affe im Dschungel ein Tablet und spielt damit. Duffy erzählte uns, dass elektronische Geräte längst zum Alltag auch kleinerer Kinder gehören – in den Bilderbüchern aber kommen sie kaum vor. Sie meinte auch, dass viele Illustratorinnen und Künstler in der heutigen, schweren und düsteren Zeit gern etwas mehr Positives in die Welt bringen möchten und deswegen die Bücher vom Schönen und Guten erzählen.
Und zwei Bücher der Holländerin Stephanie de Coo haben uns begeistert: Das eine erzählt, wie ein Junge auf dem Spielplatz einen Ameisenbären trifft, der auf der Suche nach Essen ist. Der Junge freut sich über den neuen Gefährten und schlägt ihm Spiele vor, was der Ameisenbär nicht kommentiert, und eine Weile bleiben sie zusammen. Das Pfiffige an dem Buch ist, dass die Illustrationen eine andere Geschichte erzählen: Denn nur wir Leser wissen, dass der Ameisenbär nach der Ameise sucht, die rot in den Bildern herumkrabbelt, der Junge weiß es nicht und sieht auch die Ameise nicht. Im anderen Buch wundert sich ein Mädchen über den Ausdruck »Trauerweide« und versucht, den Baum aufzuheitern. De Coo, die 17 Jahre lang einen Kinderbuchladen in s’Hertogenbosch hatte, gelingt es, die kindliche Perspektive einzunehmen und die Selbstverständlichkeiten der Erwachsenen einfach beiseitezuschieben. Und natürlich und leider durften wir ihre Bücher nicht kaufen, denn alle Absolventen haben noch keinen Verlag, es sind Einzelstücke ihrer Abschlussarbeiten.
Wie immer gab es in Bologna auch unerwartete Entdeckungen, irgendwo mal um die Ecke: ›Uit het kijken kwam het zien‹ (etwa: Aus dem Gucken kam das Sehen) von Ingrid Godon und Paul de Moor (Querido Verlag), oder die estnische Autorin Piret Raud, von der es Bücher im Schweizer Midas Verlag gibt – so etwas sucht man in vielen deutschen Buchläden vergeblich. Godon und de Moor erzählen in poetischen, malerischen, atmosphärischen Bildern von einer Frau, die jemanden vermisst, ihr Leben ist einsam und leer, sinn- und ziellos. Das Buch ist eine wunderschöne, traurige Geschichte über Abschied und Verlust, über das Loslassen und über die künstlerische Kraft, Bilder zu erfinden. Raud erzählt phantastische Geschichten wie die vom Ohr, das plötzlich ohne seinen Kopf aufwacht, und von einem Meer, das es leid ist, dass die Fische so laut sind, und in den Urlaub fährt. Und die Fische haben plötzlich niemanden mehr, der ihnen Gute-Nacht-Geschichten erzählt.
Und der Stand der Verlage aus Taiwan. Warum haben wir die noch nie so richtig gesehen? Die großen Holzschnitte von Eulen und Wanderfalken. Das Tagebuch von Lynn Bei, deren Hund Bibi stirbt … Sonia Dung, die uns am Taiwand-Stand begleitet hat und eine Adresse gegeben hat, wo wir Bücher aus ihrem Land bestellen können. Es gibt einfach zu viel, und das ist das Schöne an Bologna. Auch die Begegnungen im Bus von und zur Messe, mit Mercè Gali, Kristina Andres und vielen anderen. Davon beim nächsten Mal mehr. Versprochen.
Ein Hauptpunkt der Messe war natürlich die Ukraine, die mit einem Gemeinschaftsstand von 27 Verlagen vertreten war: »Es ist sehr wichtig für uns, auch international präsent zu sein« sagte uns Mariia Dehtiarova vom Ukrainischen Buchinstitut: »Es geht uns natürlich auch um die derzeitige Buchproduktion, aber noch mehr darum, den Menschen zu zeigen, dass wir nicht aufgeben, dass wir weiterkämpfen. Auch mit unseren Büchern.«Der Krieg hat vieles verändert, auch die Produktion von Büchern: »Man kann sich kaum vorstellen, wie das ist, im Krieg zu leben und zu arbeiten«, erzählt Dehtiarova, »aber wir haben keine Wahl: Unsere Arbeit ist es, Bücher herzustellen und zu publizieren. Es hilft uns, morgens aufzustehen. Wir müssen es einfach tun.« Auch die Bedingungen haben sich radikal geändert: »Viele Verleger arbeiten von zu Hause oder haben einen Schutzraum im Keller unter ihrem Büro, von dem aus sie arbeiten, dort unten gibt es ja auch Internet.«
Natürlich haben sich auch die Themen geändert, der Krieg ist ein Teil der Bücher: »In einer Sprache für Kinder beantworten unsere Bücher viele Kinderfragen, das ist ganz wichtig.« Sie konzentrieren sich allerdings nicht nur auf den Krieg: »Es gibt jetzt auch viele Bücher über die Heimat, über Freundschaft, über unsere Kultur und Geschichte – das gibt uns und den Kindern auch Hoffnung.« Und noch einen erstaunlichen Fakt verrät Dehtiarova: »Die Verkaufszahlen für Bücher in der Ukraine steigen grade sehr. Die Menschen kaufen mehr Bücher, denn wenn es einen Black-out gibt, lesen sie.«
Zwei Ausstellungen sind in Bologna der Ukraine gewidmet: Eine schmückt die Säulen und Wände des Buchinstitutsstands selbst: »Wir haben bisher 15.000 Bilder gesammelt, die ukrainische Kinder gemalt haben, 106 davon haben wir unter dem Motto ›Mom, I see the War‹ ausgewählt, damit auch Kinder selbst zeigen, wie sie den Krieg sehen.« Zeichnungen von kämpfenden Menschen, aber auch viele glückliche Menschen sind auf diesen naiven Bildern zu sehen, die mit Wasserfarben und Buntstiften ein widersprüchliches Bild der Ukraine zeigen – wie sie eben grade ist. Panzer, Flugzeuge und Raketen, lachende Menschen, eine bunte Weltkugel und farbenfrohe Häuser.Die andere, umfassende »Support Ukraine Exhibition« wurde von ukrainischen Illustratoren und Künstlerinnen gestaltet: Es sind großformatige Plakate, die etwa ein Mädchen in einem gelben Kornfeld unter einem blauen Himmel zeigen, einen Baseballspieler, der eine Rakete wegschlägt, einen Jungen mit einem Haus auf dem Rücken, aus dem Wurzeln in die Luft ragen, drei Kinder, die mit einem riesigen Bleistift einem Riesen den Garaus machen oder ein Kornfeld mit einer Vogelscheuche, die eine russische Generalsuniform anhat. Und die mehrfach preisgekrönte Illustratorin Romana Romanyshyn stellt fest: »Wir sind jetzt kulturelle Diplomaten geworden.«