Als die Clubs noch Disco hießen

Roman | Johann von Bülow: Roxy

»Muss man ein Leben lang der sein, als der man geboren wurde?« Oder kann man seine Herkunft, seine Wurzeln hinter sich lassen und einfach neu beginnen? Diese Fragen stellt Johann von Bülow in seinem Debütroman Roxy, einer detailverliebt und wortgewandt erzählten Coming-of-Age-Geschichte. Wer könnte eher eine Antwort darauf finden als ein Schauspieler, der es gewohnt ist, in fremde Rollen zu schlüpfen und ein anderes Leben nachzuempfinden? Von INGEBORG JAISER

Das knallt rein: grell schillerndes Rot und Orange in Neontönen, pinkfarbene Vorsatzblätter und ein Lesebändchen in sattem Yves-Klein-Blau. Manche Bücher springen einen optisch so auffallend an, dass man sie unweigerlich in die Hand nehmen, darin blättern und auf der Stelle einige Seiten lesen muss. Und schon nimmt die Geschichte Fahrt auf, in einem Mietwagen zwischen Berlin und München.

Marc ist auf dem Weg zu einer Beerdigung, doch nicht zu der seiner Großmutter oder eines entfernten Verwandten. Und es gibt auch kein Erbe anzutreten, zumindest kein materielles. Nein, Marcs (ehemals) bester Freund Roy ist tot. Gerade mal 47 geworden. Längst vorüber erscheint der Höhenflug früherer Jahre, denn: »Die Gelegenheit zur Unsterblichkeit haben Männer im besten Alter längst verpasst.« Auf der langen Autofahrt blitzen die Erinnerungsbilder einer gemeinsamen Jugend zwischen Yps-Heften und Michael Jacksons Moonwalk in der 80ern, zwischen MDMA und Guns´n Roses Sweet Child of Mine in den 90ern wieder auf. So erscheint Marcs Reise quer durch Deutschland wie eine Zeitreise zurück in die seine eigene Vergangenheit.

Marzahn bei München

In einem Münchner Gymnasium treffen sie einst aufeinander: der etwas zurückhaltende Marc Berger, der als Sohn von »Zugezogenen« insgeheim nach Anschluss sucht, um Zugehörigkeit buhlt – und der coole, wohlstandsverwöhnte Industriellensohn Robert Grünbauer, genannt Roy. Der eine wächst in einer biederen Doppelhaushälfte an Rande eines nicht mehr ganz feinen Viertels auf (»ein Hauch von Marzahn bei München«), der andere in einer mondänen Gründerzeitvilla mit Personal und PS-starkem Fuhrpark vor der Haustüre. Die ungleichen Freunde ziehen sich magisch an, trotz der Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen Alphamännchen und Adlatus.

Auf die Amouren und Eskapaden der Jugend folgen Räusche, Ernüchterungen, Abstürze, nicht nur in der titelgebenden Lieblings-Disco Roxy (ein Schauplatz, von dem man sich mehr Präsenz in diesem Roman erhofft hätte). Bis sich die Wege endgültig trennen. Ausgerechnet der stille Marc schafft den Absprung auf die Schauspielschule, während Roy brav ein Praktikum im Familienunternehmen absolviert und seine halbherzigen Ambitionen im Kunstsektor verlässlich vergeigt.

Coming-of-Age-Roman

Roxy ist das literarische Debüt des 1972 in München geborenen, aus Film, Fernsehen und Theater bekannten Schauspielers Johann von Bülow (Nach Fünf im Urwald, Mord mit Aussicht, Der gute Bulle), der einen bekannten Namen trägt, auch wenn sich das weitverzweigte Verwandtschaftsverhältnis zu Loriot nicht genau benennen lässt. Damit reiht sich Johann von Bülow mit einer neuen Facette seiner kreativen Ausdrucksmöglichkeiten in die stetig wachsende Riege schriftstellernder Schauspieler, nach Matthias Brandt, Edgar Selge, Ulrich Tukur. Ein beachtenswerter Trend, nicht erst als Folge der Coronajahre mit abgesagten Drehterminen und Auftrittsmöglichkeiten.

Roxy wirkt wie ein riesiges Wimmelbild, mit ausschweifender Detailliebe gezeichnet und unzähligen, winzigen, oft verwirrend minutiösen Kleinigkeiten ausgeschmückt. Zugleich über weite Strecken leider vollkommen humorlos und ironiefrei erzählt, abgesehen vom fulminanten Auftakt und den wundervoll getroffenen Aussprüchen in bayrischer Mundart. Dabei verfügt Johann von Bülow doch über eine sehr genaue Beobachtungsgabe und tiefes Einfühlungsvermögen in das Figurenpersonal seines Romans. Vor allem Leser, die in den 70er Jahren geboren wurden, werden diesem autofiktional angehauchten Coming-of-Age-Roman etliche Déjà-Vu-Momente abgewinnen können. Auch wenn ihre Lieblings-Disco nicht Roxy hieß.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Johann von Bülow: Roxy
Berlin: Rowohlt 2023
331 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bücher, Bücher, Bücher!

Nächster Artikel

I’m in the basement, you’re in the sky. I’m in the basement baby, drop on by

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die kleinen Monster von der Insel

Roman | Thomas Hettche: Pfaueninsel Thomas Hettches neuer Roman Pfaueninsel steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. PETER MOHR hat ihn gelesen

Schuld und Sühne

Roman | Alastair Bruce: Die Wand der Zeit Alastair Bruce wagt sich in seinem Erstlingsroman gleich an die großen Themen der Menschheit. Schuld, Sühne, Verantwortung, Moral, Menschlichkeit, darum geht es in der Wand der Zeit. Es ist eine erstaunliche Parabel über die Grundsteine des Menschseins und darüber, ob sich an ihnen rütteln lässt. VIOLA STOCKER ließ sich in eine weit entfernte Zukunft entführen.

Von oben betrachtet

Roman | Max Annas: Der Hochsitz

Nach zwei Romanen über die Geraer Morduntersuchungskommission – Nummer 3 ist in Arbeit – nimmt der Autor seine Leser diesmal mit in die Eifel. Dort leben in einem kleinen Dorf nahe der luxemburgischen Grenze die 11-jährigen Mädchen Sanne und Ulrike. Man schreibt das Jahr 1978. Es sind Osterferien. Die Fußball-WM in Argentinien steht bevor. Aber noch sind bis dahin knapp zwei Monate Zeit. Dass es aufregende Monate werden, ahnen Annas' Heldinnen, als sie Zeuginnen eines Mordes werden und unversehens mitten in eine ebenso spannende wie politisch aufgeladene Geschichte geraten. Von DIETMAR JACOBSEN

Die letzte Jagd

Roman | Elisabeth Herrmann: Schatten der Toten Mit Schatten der Toten beendet die Berliner Autorin Elisabeth Herrmann ihre Trilogie um die Tatortreinigerin Judith Kepler. Noch einmal bringt sie alle Figuren zusammen, die in den beiden vorangegangenen Bänden eine Rolle spielten: Ost- wie Westagenten aus den Zeiten des Kalten Krieges, ihren nach dem Untergang der DDR unter dem Namen Bastide Larcan in den internationalen Waffenhandel abgetauchten Vater, den Undercover-Ermittler Frederick Meißner und dessen Tochter Tabea, Judiths Chef Klaus-Rüdiger Dombrowski, der für sie fast mehr empfindet als für die eigenen drei Töchter, und die inzwischen vom BND zum Verfassungsschutz gewechselte Isa Kellermann,

Der ewig suchende Erinnerungskünstler

Roman | Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst Ein neuer Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano ist erschienen – ›Damit du dich im Viertel nicht verirrst‹. Eine Rezension von PETER MOHR