I’m in the basement, you’re in the sky. I’m in the basement baby, drop on by.
Drogen. Ein sehr aufgeladener Begriff – emotional, sozial, politisch. Einen konkreten Bezug, außerhalb des Joints einer jeden Studentenparty, haben die wenigsten Leute. Wie das Leben mit und um eine Sucht aussieht, beschreibt die bei Reprodukt erschienene, doku-fiktionale Graphic Novel ›Nadel und Folie‹ von Luka Lenzin. Die Einblicke in eine Drogenberatungs- und Konsumstelle in Berlin zeigen den Berufsalltag von Sozialarbeiter*innen und Konsument*innen. Eine Bestandsaufnahme der aktuellen Lage von süchtigen Menschen in der deutschen Verbotspolitik. Von JULIA JAKOB
Durch die wiederkehrenden Diskussionen über eine bundesweite Cannabis-Legalisierung ist das Thema Drogenpolitik in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Ob »Bubatz«, »Shore« oder »Crystal-Meth«: Laut aktuellem Jahresbericht der Bundesregierung haben rund 30% der Erwachsenen (~15,2 Mio) in Deutschland mindestens einmal Kontakt mit illegalen Drogen.
Seit 2012 steigen die Zahlen der Konsumierenden kontinuierlich an – in jeder Altersgruppe. Cannabis macht hier den Großteil aus. 1,1% der Jugendlichen haben im letzten Jahr mindestens einmal eine andere illegale Droge als Cannabis konsumiert, bei den Erwachsenen sind es 2,4%.
Diese klein wirkenden Prozentzahlen summieren sich jedoch auf rund 600.000 Menschen. 2,6 Millionen Menschen in Deutschland haben ein Alkohol- oder Drogenproblem (eine sogenannte »Substanzbezogene Störung«, Nikotinabhängigkeit wurde herausgerechnet).
Die Drogenpolitik unter der Großen Koalition bestand (und besteht unter der Ampel weiterhin) aus vier Säulen: Suchtprävention, Beratung und Behandlung, Schadensreduzierung sowie Angebotsreduzierung und Strafverfolgung.
Beobachtender Blick, kurze Distanz
So weit, so trocken. Wie das Leben hinter diesen Zahlen, Daten und Fakten aussieht, macht Luka Lenzin in ›Nadel und Folie‹ erlebbar – insbesondere für ein politisch interessiertes Klientel mit hohem Bildungsabschluss. Es ist ein beobachtender Blick durch die Augen einer Hilfskraft in einer Drogenberatungsstelle in Berlin.
Den erzählerischen Rahmen der Graphic Novel bildet Lukas Arbeitstag (hier nennen sich alle beim Vornamen). In der Küche und den Lagerräumen des sozialen Treffpunkts bleibt Zeit, um mit Kolleg*innen über die Arbeit und die damit einhergehenden Sorgen, Wünsche und Forderungen zu reden oder die eigenen Gedanken zu ordnen. Luka übernimmt alle Aufgaben, für die gerade das Personal fehlt (also an allen Ecken und Enden), kommt in den Kontakt mit den Süchtigen und erfährt einiges über deren Lebensgeschichte.
Die Erzählung springt zwischen Erklärungen zu den Themen Drogen, Politik und Sozialarbeit, den Suchtgeschichten der Konsument*innen und dem Arbeitsalltag in der Beratungsstelle. Unter anderem werden Informationen zur Drogenherstellung, den verschiedenen Konsumformen, der kulturellen Geschichte diverser Substanzen sowie deren Handel und den gesellschaftspolitischen Umgang mit illegalen Betäubungsmitteln gegeben.
Das Bild von Rausch und Drogen variiert hierbei immens zwischen den historischen Epochen, sozialen Milieus und verschiedenen Kulturen. Luka macht deutlich, dass die Rechtfertigung von Prohibition stets mit rassistischen und klassistischen Argumenten und der Marginalisierung von Minderheiten einhergeht: Die Dämonisierung kultureller Praktiken im Zuge der Missionierung Asiens, der »War on Drugs« als vorgeschobene Rechtfertigung für die Unterdrückung der BIPoCs in Amerika, das Drängen psychisch kranker Personen in die Kriminalität im Hier und Jetzt.
Entkriminalisierung als zentrales Thema
Entkriminalisierung ist ein zentrales Thema der Geschichte. Die liberale Einstellung gegenüber der Drogenpolitik ist der Graphic Novel deutlich anzumerken. Der Blick auf Menschen mit einer Suchterkrankung bedarf Offenheit gegenüber sozial herausgeforderten Milieus und deren Problemen sowie der Einsicht, dass sich die Gesellschaft und Gesetze ändern müssen, damit die Erkrankten eine Chance auf Hilfe und Wiedereingliederung bekommen. Lukas Bericht stützt diese politischen Forderungen auf historische Fakten, Erlebnisse aus dem Alltag einer*s Social Workers und den Lebensgeschichten der Konsument*innen.
Die Graphic Novel enthält viele Informationen und schafft Zusammenhänge zwischen der Drogenpolitik und komplexen Themen wie sozialer Ungerechtigkeit und kulturellen Ambivalenzen. Wer sich für Drogenpolitik und -aktivismus interessiert, dem gibt der Bericht eine faktenbasierte, argumentative Grundlage sowie empathische Einblicke in das Leben von Süchtigen. Dabei wechselt die Sprache zwischen sachlich-berichtend bis hin zu Jugendsprache und Szene-Slang.
Dieser sprachliche Spagat und die vielen Sprünge zwischen der Rahmenhandlung, Nacherzählungen und historischen Einschüben erschweren hierbei allerdings das Lesen. Wer Einblicke in die Geschichte der Drogenpolitik und den Status quo Deutschlands möchte, bekommt dies in ›Nadel und Folie‹ auf jeden Fall. Die Geschichten über Sucht und Konsum stehen hierbei nicht im Vordergrund und werden authentisch nacherzählt.
Die sachliche Sprache wird zwar Süchtige wahrscheinlich nicht vom Konsum abbringen, Angehörigen keine große Stütze sein oder Konservative von einer Entkriminalisierungs- bzw. Legalisierungspolitik überzeugen. Doch dies ist auch nicht die Aufgabe einer Dokumentation. Sie stellt dar und klärt auf, was in diesem Fall gelungen ist.
Make Love, not War – »Peace on Drugs«.
| JULIA JAKOB
| Der Titel ist eine Zeile aus dem Song ›English Summer Rain‹ (2003) von Placebo
Titelangaben
Luka Lenzin: Nadel und Folie
Redaktion: Jean-Baptiste Coursaud
Korrektur: Heike Dresche
Berlin: Reprodukt 2022
168 Seiten (schwarzweiß), 24 Euro
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Reinschauen
| Website des Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert.
| Beratungsangebote für Betroffene und Angehörige:
(Falls es Dir nicht gut geht, kannst Du rund um die Uhr die Sucht & Drogenhotline anrufen: 01806 313031)