Von erster Liebe, despotischen Lehrern und reclamgelber Pflichtlektüre handelt Tonio Schachingers Echtzeitalter, ein moderner Bildungsroman im besten Wortsinn, der den allgegenwärtigen Generationenkonflikt um virtuelle Ausflüge in den Kosmos der Gaming-Szene erweitert. Und da wir uns in Wien befinden, kann es ganz schön oarg werden. Von INGEBORG JAISER
Ah, ein Internats- und Schulroman! Das setzt sofort Assoziationen und Bilder frei, von Robert Musils Zögling Törleß über Friedrich Torbergs Schüler Gerber bis zur kürzlich ausgestrahlten Fernsehserie Tage, die es nicht gab. Sophianum nannte sich das Elite-Internat in jenem Achtteiler – Marianum die Traditionsschule mit der »schönbrunnergelben Fassade« in Tonio Schachingers Echtzeitalter. All diesen Lehrer-Schüler-Dramen gemein sind die feinen Abstufungen von militärischem Drill, Quälereien, Erniedrigungen. Und die wichtige Erfahrung auf der Schülerseite, »dass man seine Leidenszeit im Nachhinein verklären muss, weil man sie schließlich überstanden hat, und dass einen das mit den anderen verbindet, die ebenfalls nicht daran zugrunde gegangen sind.«
Auf intuitiven Überlebensmodus hat auch Till Kokorda geschaltet, als er in der 1B landet, zwischen anderen wohlstandsverwöhnten, zu zukünftigen Wirtschaftsbossen, Anwälten und Ärzten zwangssozialisierten Kindern, »die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe, rosa Poloblusen und weiße Jeans«. Till, ein Naturtalent in der Kunst des Nichtauffallens, schafft es ganze zwei Schuljahre, sich in den Hintergrund zu mogeln und seine wirkliche Leidenschaft geheim zu halten. Doch als sie zutage tritt, sich aus dem Schemenhaften abzeichnet, so wie die bislang eher vage wahrgenommenen Mitschüler (ja, Khakpour, Palffy und Ertl werden wir noch eingehend kennenlernen) und Lehrer (man merke sich den Namen Dolinar), schlägt die Geschichte einige spannende Haken.
Drei goldene Regeln
Es ist eine wahre Freude, wie Tonio Schachinger, der als österreichischer Diplomatensohn exotische Orte wie Neu-Delhi, Nicaragua oder Ecuador in seiner Vita vorweisen kann, austriakische Eigenarten und Zuschreibungen literarisch kultiviert, bis hin zu lokalspezifischen Besonderheiten. Einsteigern und Nichtsahnenden sei das dritte Kapitel anempfohlen: »Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte.«
Der Dolinar ist so einer. Bruno Dolinar, der aus Kärnten stammende Klassenvorstand und Deutschlehrer, der die Schullektüre gemäß drei goldenen Regeln auswählt: „nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.“ Die aberwitzigen Dramen und Verrenkungen um Adalbert Stifters Brigitta bergen für sich schon tragikomische Qualitäten höchster Güte. Mal ganz abgesehen von den dolinaresken Aussprachegeln, die am ehesten dem »Deutsch eines italienischstämmigen Kärntners, der sich im 19. Jahrhundert für eine Stelle am Hoftheater in Hannover bewirbt« ähneln. Selbstverständlich bekommen die Deutschen auch noch ihr Fett weg, nicht nur aufgrund ihrer mutmaßlichen Humorlosigkeit. Doch auch etliche zeitgenössische Autoren spazieren augenzwinkernd durchs Geschehen: Arno Geiger, Robert Menasse, Daniel Kehlmann, sogar Stefanie Sargnagel.
Digital ist besser
Dem strengen Regiment der elitären Bildungseinrichtung entzieht sich Till durch eskapistische Fluchten in die Parallelwelten des Computerspiel Age of Empires 2, einem klassischen Echtzeit-Strategiespiel, das bereits vor seiner Geburt gelauncht wurde, sich jedoch immer noch weltweiter Popularität erfreut. Was keiner ahnt: bereits mit 15 Jahren gehört Till zu den Top-10-Spielern der Welt. Und es stellt sich angesichts dieser ambitionierten Leistung die Frage der Verhältnismäßigkeit aller Erziehungsbemühungen, von der bestenfalls Candy-Crush-spielenden Mutter bis zum wichtigtuerischen Literaturprofessor, »der nicht einmal die Tastentöne auf seinem Handy deaktivieren kann.« Doch erst die feschen Rauchereck-Bekanntschaften Feli und Fina bugsieren den passionierten Nerd raus aus dem »Informatikkammerl« und auf eine andere Spur.
Tonio Schachinger, selbst Absolvent der Wiener Eliteschule Theresianum, erzählt den Alltag des Schülers Till in klassischer Linearität, doch mit unterschiedlichen Tempi. Mal in abgeklärtem, distanziertem Tonfall, mal atemlos durch die Handlung hechelnd, jedoch immer sehr gegenwärtig, authentisch und klug entlarvend. Seine meisterhafte Beobachtungsgabe und den Hang zu Insider-Stories hat Schachinger bereits mit seinem literarischen Debüt Nicht wie ihr (2019) bewiesen, das es aus dem Stand heraus auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Man möchte auch seinen zweiten Roman am liebsten als Pflichtlektüre ausrufen, für alle Eltern und Lehrer, für Literaturversessene, Gamer, Wienverliebte – und nicht zuletzt für alle halbwüchsigen Schüler zukünftiger Generationen. Verschiedene Lesarten lässt nicht nur der Titel zu. Echt Zeit, Alter!
Titelangaben
Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Hamburg: Rowohlt 2023
368 Seiten. 24 Euro
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