Die Kunst des Wünschens

Kinderbuch | Helen Rutter: Neun Wünsche für Archie

Wünschen ist eine Kunst, eine schwer zu beherrschende noch dazu. Diese Erfahrung mussten schon viele mit Wünschen Beschenkte machen und auch Archie Crumb ist einer von ihnen. Von ANDREA WANNER

Ein Junge sitzt mit aufgeschlagenem Knie auf der Straße. Neben ihm liegt ein verbeultes Fahrrad.Archie hält sich selber für total talentlos. Schulisch ist er eher eine Niete, hat Probleme mit der Rechtschreibung und dem Einmaleins, Fußballspielen kann er auch nicht. Dabei liebt er Fußball und sammelt leidenschaftlich Aufkleber. Ganze zweiundfünfzig Mal besitzt er den mit Lucas Bailey drauf, dem besten Torschützen der Liga, der zufällig sogar in genau die Schule gegangen ist, die Archie jetzt besucht. Die Sticker sind ein Highlight in seinem sonst eher stressigen Leben. Er kümmert sich um seine Mutter, die das Haus nicht mehr verlässt, und verbringt die Wochenenden bei seinem Vater und dessen neuer Familie, wo ihn Julie, die neue Frau seines Vaters, nicht gerne sieht. Und dann gibt es noch Maus, seine beste – und eigentlich einzige Freundin, die ihn immer wieder aufheitert. Alles in allem kein so schrecklich rosiges Leben.

Das soll sich schlagartig ändern, als Archie nach einem Fahrradunfall nicht nur Sternchen, sondern auch Lucas Bailey vor sich sieht. Der fragt den noch ziemlich benommenen Archie nach dessen Lieblingszahl – es ist die Neun, die Spielernummer von Lucas – und verkündet dann, Archie habe ab dem nächsten Morgen sage und schreibe neun Wünsche frei. Keine Einschränkungen außer der, dass er sich nichts wünschen dürfe, was andere Menschen innerlich verändere, sie als zufriedener oder freundlicher macht. Archie glaubt nicht an Zauberei, das mit den Wünschen ist ihm total suspekt. Aber wie sagte Lucas? »Versuch es einfach. Was man sich nicht wünscht, kann auch nicht wahr werden, oder?«

Also probieret er es aus, wünscht sich als Erstes, einen ganzen Tag im Bett zu bleiben und auf der Xbox Fifa zu spielen. Ein ziemlich bescheuertes Begehren, wenn man gar keine Xbox besitzt und es ein normaler Schultag ist. Und dann passiert zweierlei: Ein Anruf von der Schule, dass die geschlossen bleibt, und ein großer Karton der Nachbarin steht hinterm Haus mit ausgemusterten Dingen ihres Sohnes. Und in dem Karton ist: eine Xbox. Nein, Archie glaubt nicht an so einen Hokuspokus, aber merkwürdig ist es schon. Und ein bisschen beginnt er zu grübeln, was an der ganzen Geschichte dran sein könnte.

Helen Rutter lässt ihren jungen Helden durch ein ganz besonderes Abenteuer stolpern. Was sind Zufälle, was ist Magie? Archie ist skeptisch, aber wie sich die Dinge in seinem Umfeld entwickeln, stellt ihn doch vor Rätsel, die mit Zufall allein schwer zu erklären sind. Er findet heraus, dass man sehr sorgfältig und genau wünschen muss, wenn der Schuss nicht nach hinten losgehen soll. Und er spürt Veränderungen in seinem Leben, die manches zum Besseren wenden. Raffiniert hält sie die Balance zwischen Möglichem und Unwahrscheinlichem, bringt zum Lachen und Nachdenken und zeigt, dass eine genaue Analyse des Ist-Zustandes Voraussetzung für jegliche Veränderung ist. Jenseits aller Selbstzweifel und Zwiespalte findet Archie zunehmend Gefallen an der Sache mit den Wünschen – und muss sich doch auf manche Überraschung gefasst machen.

Eine Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis hat das zauberhafte Buch mehr als verdient!

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Helen Rutter: Neun Wünsche für Archie
(The Boy Whose Wishes Came True, 2022)
Aus dem Englischen von Helen Rutter
Zürich: Atrium Verlag 2022
272 Seiten, 17 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gefiederte Freunde

Nächster Artikel

Wie Bonnie und Clyde

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Un-glaub-lich!

Kinderbuch | Antje Damm: Was passiert denn da?

Der schlagfertige Bildwitz von Anje Damm ist in jedem neuen Bilderbuch eine Überraschung, fordert heraus, provoziert, bringt zum Lachen. ANDREA WANNER freut sich ein weiteres Mal an einem grandiosen Bilderbuch der Künstlerin.

Nicht nur bunte Tupfen

Kinderbuch | Lizzy Hollatko: Der Sommer der kleinen Manto Ein Kindersommer voller Erlebnisse, bunt wie die Tupfen auf einem Sommerkleid. Aber natürlich ist das nicht alles, denn die Geschichte stammt von Lizzy Hollatko. Sie hat einen scharfen Blick für die Bruchstellen im vermeintlich glatten Alltagsleben. Von MAGALI HEISSLER

Wärme für die Seele

Kinderbuch | Pauline Pete: Lieblingspulli

Jede und jeder hat so Lieblingsstücke, die man am liebsten gar nicht mehr ausziehen möchte. Und bei so einem bunten, kuscheligen Pullover, wie die kleine Ich-Erzählerin besitzt, kann man sich das gut vorstellen. Aber der Pulli ist viel mehr als ein wärmendes Outfit, kann ANDREA WANNER nachvollziehen.

Positionsverlust

Kinderbuch | Claudia Schreiber: Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen Vor zehn Jahren verzauberte die Geschichte vom herrschsüchtigen Sultan auf dem Kissenberg und seinem Kranführer Kotzbrocken, der ihn dort hinauf befördern musste. ANDREA WANNER war gespannt auf die Fortsetzung.

Zudecken, knuddeln, Liedchen singen, müde knutschen

Kinderbuch | J. Douglas, L. Riphagen: Das Küsschen-Krokodil Viele Kinder können nicht einschlafen. Hören Geräusche, haben Angst. Haben nur ein kleines Bärchen bei sich, das ihnen aber auch nicht helfen kann. Verstecken sich unter der Bettdecke, aber das macht’s auch nicht besser. Von GEORG PATZER