Sie sind einfach da

Kinderbuch | Annelies Beck: Gedanken denken

Sind sie irgendwann einmal weg? Kann man eine Pause machen, Ruhe vor ihnen haben, kann man sie sich aussuchen? Auf jeden Fall passen sie in ein Buch: Gedanken um die Gedanken von BARBARA WEGMANN.

Ein Mädchen blickt in den Himmel. EIn Schwarm Schwäne fliegt über es hinweg.Unser Kopf leistet jeden Tag Erstaunliches, und er hört nie damit auf: Er denkt, jongliert mit Gedanken, bewegt sie, erfindet sie, versteckt sie und vergräbt sie, oder: Er freut sich über sie. »Was sind Gedanken?« – das fragt die kleine Nora, ein kleiner Wuschelkopf mit Ringelsocken, angezogenen Beinen auf einem Stuhl sitzend.

»Mal kommen sie, wo du sie nicht erwartest: im Bett oder beim Baden. Oft bleiben sie weg, wenn du schwimmst oder rennst oder spielst oder singst. Gedanken gehen meistens ihre eigenen Wege.«
Und doch begleiten sie uns unser ganzes Leben lang, wir tauschen sie aus miteinander, wir lernen durch unsere Gedanken, wir leben mit ihnen, sie belasten uns, sie beflügeln uns, sie steuern uns ganz unbewusst, sie leiten und motivieren uns. »Dann fließen Gedanken von deinem Kopf in deinen Mund und dein Herz, in deine Hände und Füße. Dann wird aus Denken Tun.«

Es ist eine imaginäre Stimme, die Nora antwortet und ihr das Mysterium der Gedanken etwas näherbringt. Und es ist schon ganz erstaunlich: Beginnt man einmal über die Gedanken nachzudenken, dann fällt einem plötzlich so vieles dazu ein: Manchmal, so erzählt die Stimme dem kleinen Mädchen, verschwände ein Gedanken, ohne dass man es wolle. »Das nennt man vergessen.« Oder ein Gedanke gehe einem nicht mehr aus dem Kopf. »Gedanken sind wie kleine Krabbelspinnen«, sie ließen sich nur schwer vertreiben, auch wenn man sie noch so gerne los wäre.

Es ist kein Buch mit einer Geschichte, aber es sind Seiten, in die man sich genauso intensiv und wissbegierig und nachdenklich vertiefen wird wie in ein Märchen oder eine andere spannende Geschichte. ›Gedanken denken‹, dieser Buchtitel allein fordert dazu auf, sich dem eigenen Denken einmal zu stellen. Gerade bei kleinen Knirpsen, die hundertmal am Tag fragen »Warum?«, da wirbeln die Gedanken nur so im Kopf, die Eindrücke, das neu Gelernte, alles will eingeordnet, archiviert, bewertet werden. Und im Alter, da bestehen Gedanken, sicher ruhiger dahinfließend, oft aus Erinnerungen.

Annelies Beck ist eine belgische Journalistin und Schriftstellerin. Ganz, ganz früher, als Kind, da hatte sie Postbotin werden wollen, weil das Lesen ihre große Leidenschaft war; dabei hatte sie es nicht auf die Post für ihre Kunden abgesehen, sondern es waren die Arbeitszeiten, die ihr jeden Nachmittag für ihre Leidenschaft viel Zeit lassen würden, Zeit für viele Bücher.

Jugendträume

Ihren Dialog zwischen Nora und der imaginären Stimme – oder ist es vielleicht letztlich ein Selbstgespräch? – illustriert die Niederländerin Hanneke Siemensma wunderbar einfühlsam: Ihre Buntstiftzeichnungen sind wie hingehaucht, Details fehlen, grobe Schemen reichen für Eindruck und Gedanken zu Bildern: in der Natur, zu Hause, am See, mit Tieren, irgendwo im bedrohlichen Dunklen oder im befreienden Hellen.

Für ›Der Hase ohne Nase‹, ein ebenfalls von ihr illustriertes Buch, das 2021 auch im Bohem Verlag erschien, erhielt sie den ›Gouden Penseel‹, den goldenen Pinsel, einen Preis, der jährlich in den Niederlanden für das beste illustrierte Kinderbuch verliehen wird. Die Jury könne die Liebe sehen, die die Arbeit an dem Buch begleitet habe, so hieß es. Gleiches gilt für dieses Buch nun. Die Darstellung aller Empfindungen, Freude, Alleinsein, Angst, Neugier, Zufriedenheit, Ruhe, Glück, setzt Hanneke Siemensma sparsam mit Strichen aber sehr großzügig mit Empathie um.

Gedanken, so erzählt die Stimme der kleinen Nora, sie kämen nicht nur im eigenen Kopf vor, auch in den Köpfen anderer, in Zeitungen, in Büchern und im Internet. Und da teilten und besprächen die Leute, was sie denken. Gedanken sind also der aller-, allerwichtigste Baustein für unsere Kommunikation.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Annelies Beck: Gedanken denken
(Gedachten denken, 2022) Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Illustriert von Hanneke Siemensma
Münster: Bohem 2012
40 Seiten, 22 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von anständigen Dieben und diebischen Ehrenmännern

Nächster Artikel

Schreiben, um zu überleben

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Trübe Aussichten?

Kinderbuch | Natalie Standiford: Ein Baum voller Geheimnisse Wenn die Kindheit endet, beginnt der Ernst des Lebens, sagt man. Das klingt nicht gut. Muss ein Kind tatsächlich eines Tages auf alles verzichten, was Spaß macht? Darf nichts mehr unbeschwert und lustig sein? Das sind ja trübe Aussichten. Oder vielleicht doch nicht? Die US-amerikanische Autorin Natalie Standiford hat dazu eine sehr spannende Geschichte geschrieben. Von MAGALI HEISSLER

Haben oder Nichthaben

Kinderbuch | Polly Horvath: Super reich

Rupert ist zehn und seine Familie ist arm. Und dann landet er aus Zufall bei den reichen Rivers. Eine Begegnung, die nicht ohne Folgen bleibt. Von ANDREA WANNER

Gleich und gleich gesellt sich gern?

Kinderbuch | Selim Özdoğan: Die Ameise und der Frosch

Ein Frosch wird beim Sonnenbaden von einer Ameise gestört. Ganz schön lästig, wie er findet. Was sich daraus entwickelt, verblüfft dann aber doch, findet ANDREA WANNER

Pfiffig

Kinderbuch | Mac Barnett, Jon Klassen: Der Wolf, die Ente & die Maus Ein Starker, zwei Schwache, ein dunkler Wald. Eine einfache Geschichte? Nicht, wenn man so pfiffig denkt, wie Mac Barnett. Seine Geschichte lässt Leserinnen und Leser die Welt mit anderen Augen sehen. Von MAGALI HEIẞLER

Rettungs-Aktion, teilweise geglückt

Kinderbuch | Dave Eggers: Die Mitternachtstür Mal wieder steht die Welt kurz vor ihrem Ende, mal wieder sollen Kinder sie retten. Kein neues Motiv – aber durchaus eine vielversprechende Idee, findet ANDREA WANNER