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Schreiben, um zu überleben

Menschen | Zum 90. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Reiner Kunze

»Ein blauer himmel über einem weizenfeld – so stand / bei minus zwanzig grad am straßenrand / das klavier / und die einen spielten / die hymne und Chopin,/ und die anderen zielten / auf die hymne und Chopin«, heißt es im 2016 anlässlich eines Ukrainebesuchs verfassten ›Revolutionsgedicht‹. Auch in seinem 2018 erschienenen Band ›Die Stunde mit dir selbst‹ hatte Reiner Kunze ungewohnt offen Stellung zur politischen Lage in Osteuropa bezogen. Viele Verse aus den letzten Jahren kreisen um das Thema Alter und Vergänglichkeit. Von PETER MOHR

»Selbst wenn ich keine Leser hätte, würde ich schreiben. Es ist meine Art zu leben – manchmal auch zu überleben«, hatte Reiner Kunze vor zwanzig Jahren in einem Interview erklärt. Ein Leben für und mit der Literatur – aber eines ohne das laute verbale Geklapper, zurückgezogen und beinahe eremitenhaft, ohne die heute beinahe schon obligatorische Präsenz in den Medien.

»Jeder wird nur das tun, was ihm Spaß macht. Wozu sich also Fertigkeiten aneignen und Reflexe einhämmern, die man später niemals brauchen wird?«, schrieb Kunze in einem kurzen Prosastück des 1976 zunächst nur in der Bundesrepublik erschienenen Bandes ›Die wunderbaren Jahre‹. Die SED-Zensoren witterten subversives Gedankengut in diesen Texten, die als Schwarzdrucke auch in der DDR kursierten, und verschärften die Hetzjagd auf den Erfolgslyriker, der mit seinen Bänden ›Sensible Wege‹ (1969) und ›Zimmerlautstärke‹ (1972) beachtliche Auflagezahlen erreicht hatte.

Es war die Zeit der Biermann-Ausbürgerung, als ein hoher Kulturfunktionär des SED-Staates gegenüber Reiner Kunze in einem Vier-Augen-Gespräch einen »Unfall auf der Autobahn« nicht mehr ausschließen wollte. Sein Parteibuch hatte der Schriftsteller bereits nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings zurückgegeben, aus dem Schriftstellerverband war er ausgeschlossen – es blieb ihm am 13. April 1977 nur die Ausreise in den Westen. Im Gegensatz zu vielen Schicksalsgefährten kannte Reiner Kunze nach der Übersiedlung in die ihm lange fremd gebliebene westliche Welt keine materielle Not. Noch im gleichen Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, Universitäten lockten mit Gastdozenturen, und seine Frau arbeitete im Westen wieder als Ärztin.

Doch der Poet Kunze eckte auch in der Bundesrepublik immer wieder an. Er ließ sich nicht als sozialismusverteufelnder Dissident missbrauchen, sprach trotz aller Schikanen niemals mit Hass oder Verachtung über seine Jahre in der DDR, kritisierte Günter Grass und Heinrich Böll für ihr Arrangement mit den Regierenden Osteuropas, und in seinen Gedichtbänden ›Auf eigene Hoffnung‹ (1981) und ›Eines jeden einzigen Lebens‹ (1986) klangen latent kritische Töne über den »freiheitlichen« Westen an.

Reiner Kunze, der am 16. August vor 90 Jahren als Sohn eines Bergarbeiters in Oelsnitz im Erzgebirge geboren wurde und durch den Besuch einer Aufbauklasse für Arbeiterkinder zum Abitur gelangte, begann schon in jungen Jahren Gedichte zu schreiben. Seine große Passion, der er bis heute frönt – allen Jugendbüchern und Übersetzungen zum Trotz. Kunzes Verhältnis zur Poesie ist am eindrucksvollsten im Essayband ›Das weiße Gedicht‹ (1989) nachzulesen. Die Lyrik dient als Spiegel der Lebenserfahrung: der Alltag, die Natur, die Liebe, Ängste, Träume, Hoffnungen oder Reiseimpressionen – wiederkehrende Sujets in seinen Versen.

Reiner Kunze, der uns mit dem Prosaband ›Die wunderbaren Jahre‹ die poetischste Auseinandersetzung mit dem schikanösen Alltag der DDR vorlegte, wirkt im heutigen, schnelllebigen Literaturbetrieb beinahe schon wie ein Fossil aus vergangener Zeit – ein kluger Dichter, der sich nur dann zu Wort meldet, wenn er auch etwas Substanzielles zu sagen hat.

Der S. Fischer Verlag hat pünktlich zum Geburtstag einen repräsentativen Querschnitt aus Kunzes Lyrik in einem Band im Westentaschenformat vorgelegt.
Für »herausragende Leistungen« dekorierte ihn der Freistaat Bayern 2001 mit seiner höchsten Auszeichnung – den Maximiliansorden. In seiner Laudatio rühmte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber den in Erlau (15 km östlich von Passau) lebenden Kunze als einen »der bedeutendsten deutschen Lyriker der Nachkriegszeit.« Kein Veto!

| PETER MOHR

Titelangaben
Reiner Kunze: Gedichte
Frankfurt: S. Fischer Verlag 2023
494 Seiten, 30 Euro
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