Angst dressiert

Menschen | Zum 70. Geburtstag von Nobelpreisträgerin Herta Müller

Vor 14 Jahren wurde Herta Müller der Nobelpreis für Literatur verliehen. Seitdem hat sie keinen Roman mehr und auch keine längere Erzählung veröffentlicht. In lockeren Intervallen sind schmale Bände mit Collagen, Essays oder Reden erschienen – so wie der nun vorliegende, 13 ganz unterschiedliche Texte umfassende Band »Eine Fliege kommt durch einen halben Wald«. Von PETER MOHR

Das Büchlein kreist um die für Herta Müllers Vita prägenden Sujets Angst, Verfolgung, Exil und Gewalt. Sie berichtet darin, wie sie dem rumänischen Geheimdienst Securitate die kalte Schulter zeigte. Daraus resultierten Bedrohungen, gesellschaftliche Stigmatisierung und berufliche Isolation. »Angst dressiert« lautet einer der prägnantesten Sätze in Herta Müllers Erinnerungen über ihre Zeit in Rumänien. »Jede Diktatur besteht aus denen, die Angst machen, und den anderen, die Angst haben.«

Und die Schikanen setzten sich nach ihrer Flucht in Deutschland zunächst fort. Man verdächtigte sie, eine Agentin der Securitate zu sein und keine Verfolgte. Bittere Erfahrungen, die sich in den Texten des Bandes widerspiegeln – vor allem in der Dankesrede für den ihr verliehenen Preis für Toleranz und Menschenrechte. Herta Müller setzt sich auf sehr subtile Weise mit der Würde des Menschen auseinander, mit der Sehnsucht nach Freiheit und völliger Selbstbestimmung: »Wie kann man leben und sich ertragen, obwohl man nicht so ist, wie man sein will, weil man gar nicht so sein darf, wie man am liebsten wäre.« Der Humor war offensichtlich für die Schriftstellerin ein wichtiger Rettungsanker, eine Art Strohhalm in den dunklen Zeiten: »Ich brauchte das Lachen, den Humor als weißes Trampolin für dunkle Ecken.«

Herta Müller nimmt häufig Bezug auf »Brüder im Geiste«, wie Victor Klemperer, den chinesischen Dissidenten und Friedenspreisträger Liao Yiwu und dessen Werk »Für ein Lied und hundert Lieder« sowie auf den von ihr geradezu hymnisch gefeierten Georges-Arthur Goldschmidt.

Es war eine handfeste Überraschung, als Herta Müller im Oktober 2009 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. »Sie zeichnet mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit«, hieß es damals in der Begründung des Stockholmer Komitees.
Sie hat sich in ihren sprachlich ausgefeilten, bisweilen lyrisch anmutenden Werken immer wieder mit Verfolgung und Heimatlosigkeit, mit Umzügen und Neuanfängen beschäftigt.

Herta Müller, die an der Universität Timisoara (Temeswar) Germanistik und rumänische Literatur studierte, wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren. Später arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik und verlor diesen Job 1979, nachdem sie sich geweigert hatte, mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Mit Gelegenheitsjobs als Deutschlehrerin hielt sie sich materiell über Wasser – immer den Atem der Securitate-Spitzel im Nacken.

»Nur die Literatur gibt einem die Möglichkeit, aus der Geschichte den einzelnen Menschen herauszuheben. Sie erlangt ihre Wahrheit durch Erfindung, imaginiert sie durch Sprache«, hat Herta Müller vor einigen Jahren rückblickend in einem Interview erklärt.

In ihrem Erstling ›Niederungen‹, für den sie 1984 mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde, ging es um die Rückständigkeit in der dörflichen Enklave des Banats. Im damals hochgelobten Band ›Barfüßiger Februar‹ (1987) stand dann das eigene Erleben stärker im Mittelpunkt. Das zentrale Thema war der Abschied von Rumänien. »Mir ist es nicht schwergefallen, von Rumänien wegzugehen. Es geht in Rumänien zur Zeit um das nackte Überleben. Von Kultur kann schon gar nicht mehr die Rede sein«, hatte sie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erklärt.

Diverse Gastprofessuren in Deutschland, England und in den USA sowie zahlreiche Literaturpreise erleichterten ihr den Neuanfang im Westen. Sie schrieb kontinuierlich, aber eher unspektakulär, auf hohem Niveau weiter.
Der ganz große literarische Wurf ist Herta Müller erst im Jahr der Nobelpreisverleihung gelungen – mit ihrem Roman ›Atemschaukel‹.

Herta Müller hatte die Schilderungen von Georg-Büchner-Preisträger Oskar Pastior (1927-2006) über dessen Erfahrungen im Lageralltag in ihren bedeutendsten, tief unter die Haut gehenden Roman einfließen lassen. Ein Buch über Unterdrückung, Gewalt und die unmenschliche politische Barbarei in totalitären Systemen.

In Herta Müllers Erzählwerken wie in den essayistischen Petitessen hören wir eine singuläre humanistische Stimme der Verfolgten, mahnende Gedenkprosa von höchster poetischer Güte.

| PETER MOHR
| TITELFOTO: Heike Huslage-Koch, Herta Müller Literaturfest München 2016, Crop, CC BY-SA 4.0

Titelangaben
Herta Müller: Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
München: Carl Hanser Verlag 2023
123 Seiten,24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schreiben, um zu überleben

Nächster Artikel

»Familie ist mein Frieden«

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Eloquenz und Humor

Menschen | Zum Tode des Kritikers und Schriftstellers Hellmuth Karasek »Manchmal fürchtete ich schon, ich schreib mich in eine Depression hinein«, bekannte Hellmuth Karasek über die Arbeit an seinem 2006 erschienenen Band ›Süßer Vogel Jugend‹. Der kulturelle Tausendsassa mit der stark ausgeprägten Affinität zur Selbstironie sprühte auch in fortgeschrittenem Alter noch vor Tatendrang und hatte 2013 unter dem Titel ›Frauen sind auch nur Männer‹ noch einen Sammelband mit 83 Glossen aus jüngerer Vergangenheit vorgelegt. Sogar prophetische Züge offenbarte Karasek darin, sagte er doch den Niedergang der FDP zwei Jahre vor der Bundestagswahl 2013 schon voraus. Ein Rückblick von PETER MOHR

Er liebte die extremen Töne

Menschen | 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki am 2. Juni

Er war ein begnadeter Selbstinszenierer, eitel und polarisierend. Er hat sich gern dem Mainstream widersetzt und genoss seinen Status als spät inthronisierter Popstar der Bücherwelt. Und doch hat er unendlich viel für die Literatur im deutschen Sprachraum getan: Die Rede ist von Marcel Reich-Ranicki. Von PETER MOHR

Wie Rauch in den Winden

Roman | Raoul Schrott: Eine Geschichte des Windes

Es ist ein wunderschönes Buch, nicht nur von außen, rundum, nein, auch sein Inhalt, geschrieben über oder aus Sicht eines Mannes, der eigentlich immer im Hintergrund stand, der wenig bekannt ist, dem nie große Beachtung zuteilwurde: Hannes aus Aachen. Und seine unglaubliche Seefahrt-Geschichte beginnt vor 500 Jahren. BARBARA WEGMANN hat das Buch gelesen.

Ein Monument für Mordechai

Kulturbuch | Uwe von Seltmann:Es brennt Mit ›Es brennt‹ würdigt Uwe von Seltmann den bekannten jüdischen Dichter und Liedermacher Mordechai Gebirtig und dessen Lebenswerk, etwa 120 bis heute gesungene jiddische Volkslieder. Von FLORIAN BIRNMEYER

Kampf für soziale und menschliche Gerechtigkeit

Menschen | Interview mit Maryum Ali

Die Rednerin und Sozialarbeiterin Maryum Ali ist die Tochter der Box-Legende Muhammad Ali. Die 53-jährige schildert ROBERT HAZZAN die Ursachen für Kriminalität von überwiegend afroamerikanischen Jugendlichen in den USA und wie die Geschichte der Rassendiskriminierung damit zusammenhängt.