//

Ein Monument für Mordechai

Kulturbuch | Uwe von Seltmann:Es brennt

Mit ›Es brennt‹ würdigt Uwe von Seltmann den bekannten jüdischen Dichter und Liedermacher Mordechai Gebirtig und dessen Lebenswerk, etwa 120 bis heute gesungene jiddische Volkslieder. Von FLORIAN BIRNMEYER

Gebirtig es brenntIn 12 Kapiteln und auf insgesamt über 300 Seiten legt der Autor die Lebensumstände Gebirtigs und sein Liederwerk ausführlich dar. Jedes der zwölf Kapitel akzentuiert dabei jeweils einen anderen Aspekt des Lebens und Schaffens Gebirtigs: der unbekannte Gebirtig; Gebirtig, der Revolutionär; Gebirtig, der Vater des jiddischen Volkslieds etc. Der Werdegang Gebirtigs dient über weite Strecken als roter Faden des Werkes.

Doch der Autor beschäftigt sich auch in allgemeiner Weise mit der jüdischen Kultur, der Geschichte und der politischen Situation des Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Einen Teil seines Werks widmet der Publizist Uwe von Seltmann dem jüdischen Leben vor dem Zweiten Weltkrieg und während der Shoah. Zudem erhalten zeitgenössische Literaturkritiker und Feuilletonisten sowie Freunden und Weggefährten Gebirtigs das Wort, die die Shoah, anders als Gebirtig, überlebten.

Mordechai Gebirtig wurde wahrscheinlich im Jahr 1877 in Krakau als Sohn von Kaufleuten geboren. Polen befand sich zu diesem Zeitpunkt noch unter österreichisch-ungarischer Herrschaft. Auf seiner Herkunft beruht Gebirtigs ausgeprägtes soziales Gewissen, das in ein häufig sozial engagiertes Liedgut ausstrahlt. Zusammen mit seiner Ehefrau lebte Gebirtig im Krakauer Stadtteil Kazimierz, in welchem zahlreiche Juden lebten. Gebirtig soll nachts an den von ihm überlieferten Liedern geschrieben haben, während er tagsüber als Tischler arbeitete und Möbel reparierte.

1920 erscheint seine erste Sammlung Folkstimlech, die 90 Lieder in seiner Muttersprache Jiddisch enthält. Gebirtig erweckt darin die Welt der kleinen Leute im jüdischen Viertel Krakaus zum Leben. Als sich die Lage der Juden verschlechtert, wird der Ton Gebirtigs kämpferischer, ironischer und beißender. Er schreibt dennoch weiter, bis zu seinem Tod im Jahr 1942. Im Jahr 1938 ruft Gebirtig in dem Lied ›Undzer shtetl brent‹ in prophetischer Manier zum Widerstand gegen antisemitische Pogrome auf. Im Juni 1942 wird der Dichter und Komponist Gebirtig im Krakauer Ghetto durch einen deutschen Soldaten erschossen.

Die sorgfältige Recherche von Seltmanns, die durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert wurde, lässt sich am Umfang des Werks, an der detailgetreuen Wiedergabe des Lebens und der Lebensumstände Mordechai Gebirtigs und an den in großer Zahl abgedruckten Originaldokumenten ablesen, darunter Abbildungen von Notizbucheinträgen, geographische Skizzen, Liedtexten und Liednoten und zeitgenössische Fotografien. Das Werk ist äußerst reich an Dokumenten, die in einem noblen Layout präsentiert werden.

So ist das Opus ›Es brennt‹, benannt nach einem der berühmtesten Lieder Gebirtigs über die Shoah, ein Buch von enzyklopädischem Ausmaß, das zum Anlesen, Weiterblättern und Festlesen anregt; eine durchgehende Lektüre von vorn bis hinten erfordert jedoch Disziplin und ein ausgeprägtes Interesse am Sujet des Werkes. Die Leistung von ›Es brennt‹, erschienen im Erlanger homunculus-Verlag, ist dadurch keineswegs gemindert: Publizist von Seltmann hat Mordechai Gebirtig ein Monument gebaut, ein Denkmal literarischer Natur, dessen Botschaft der Akzeptanz sich festsetzt und nachhallt.

| FLORIAN BIRNMEYER

Titelangaben
Uwe von Seltmann: Es brennt
Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes
Erlangen: homunculus 2019
400 Seiten, 38 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die junge Frau und das All

Nächster Artikel

Die Sammler der Herzen

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Generation Nestbau

Kulturbuch | Nicole Maalouf: Das neue SoLebIch Buch Der Reiz einer ästhetischen Innenarchitektur verfängt immer. Bislang schien es, als ob nur hochpreisige Zeitschriften und Bücher guten Geschmack vermitteln könnten und damit dem Otto-Normal-Verbraucher der Zugang zum illustren Zirkel der Vorzeigeimmobilien verwehrt wäre. Wie weit dieses Klischee der Wirklichkeit hinterher hinkt, zeigt der zweite, neue Bildband der Wohncommunity SoLebIch.de, der unter der Ägide von Initiatorin Nicole Maalouf Einblick in die privaten Gefilde designverliebter Normalos gewährt. ›Das neue SoLebIch Buch‹ ist ein echtes Schmankerl für alle Voyeure und Ästheten. VIOLA STOCKER blättert sich staunend durch die Privatresidenzen der Republik.

Religiöse Fanatiker und hungrige Tierchen

Kulturbuch | William Blades: Bücherfeinde Heutzutage wird immer wieder behauptet, Bücher seien vom Aussterben bedroht, denn das Internet und E-Books seien die Bücher von Morgen. Zwar kannte vor gut hundert Jahren der Bücherliebhaber William Blades weder das Internet noch E-Books, doch waren Bücher nicht weniger bedroht. Schon damals waren die Feinde zahlreich: Feuer, Wasser, Gas, Hitze, Staub, Vernachlässigung, Ignoranz und Engstirnigkeit. William Blades Bücherfeinde – gelesen von TANJA LINDAUER

Vom Startschuss in schwindelnde Höhen

Kulturbuch | Kay Schiller: WM 74. Als der Fußball modern wurde Brasilien wirft Schatten voraus, düstere Schatten, die FIFA ist zu einem geldfressenden Ungeheuer mutiert, bewohnt von hirn- und seelenlosen Greisen – ein Trojan horse relaunched, das von einem triumphalen Einzug nach Brasilien träumt. Da fragen wir uns jetzt schon, wie das ausgehen wird. Nein, wir reden diesmal gar nicht von Fußball, Fußball ist ein schönes Spiel. Von WOLF SENFF

Von Ganz bis Eidinger

Kulturbuch | Jürgen Schitthelm: 50 Jahre Schaubühne 1962-2012

Der von Jürgen Schitthelm herausgegebene Jubiläumsband 50 Jahre Schaubühne 1962-2012 lässt THOMAS ROTHSCHILD in Erinnerungen schwelgen.

Fesselnde Lektüre

Kulturbuch | Anne-Carolin Hopmann: Der Hamster ist tot und die Glocken läuten Wir lernen Abläufe des Alltags einer Gemeindepfarrerin der reformierten Kirche in der Schweiz kennen, Wochentag nach Wochentag, unaufgeregt beschrieben, mit Akzentuierungen auch auf das Altern und auf das Heranwachsen, also auf diejenigen, die die Glaubensgemeinschaft verlassen werden, und auf diejenigen, die durch den Konfirmandenunterricht aufgenommen werden. Von WOLF SENFF