Kulturbuch | Jochen Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer
Schwierig, über Literatur zu schreiben. Oder vielleicht eher: Mir fällt es schwer. Die Maßstäbe sind im Übergang, Trivialliteratur ist seit Urzeiten abgeschafft. Wo man nur hinsieht, wird gecrossovert, der etablierte Betrieb befasst sich mit eigenen Sorgen. Die jüngste deutsche Nobelpreisträgerin äußert sich zur Ukraine, es müllert, dass noch die letzten Grenzpfähle im Sumpf versickern. Von WOLF SENFF
Gut, es ist so eine Sache mit den Ansprüchen, unsere Balltreter sind Spitze, wenngleich da längst ein Hoeneß am Lack kratzt und der DFB sich dem Niveau von FIFA und ADAC angleicht. Jedoch in Büchern, da sind wir unschlagbar, die Frankfurter Buchmesse hat ihre über fünfhundertjährige Tradition, felsenfest, die Leipziger Buchmesse gilt mit tausendachthundert Veranstaltungen binnen vier Tagen als größte ihrer Art, hopp, hopp ins Buch der Rekorde damit – Erfolg und Preise überall, Superlativ, ein- für allemal, will Alltag sein.
Vom Zustand, allgemein
Das qualvoll aus dem »Johannes R. Becher«-Literaturinstitut Leipzig hervorgegangene Deutsche Literaturinstitut Leipzig (DLL) bietet Module zu Prosa, Lyrik, Kulturtheorie und Literaturbetrieb an, für alles ist gesorgt, nahtlos bruchlos geschmeidig, dass es flutscht, wir können Bachelor, wir können Master, wir steigern das Bruttosozialprodukt. Geier Sturzflug.
Jochen Schimmang lehrte dort kurzzeitig, länger als zehn Jahre ist das jetzt her, und man fragt sich heute, inwiefern das als eine Referenz gelten darf, hinterher ist man immer klüger – das DLL bis 1999 als einziges seiner Art im Lande ist mitverantwortlich für den Zustand dessen, was uns als ›Literatur‹ auf dem ›Markt‹ feilgeboten wird, und firmiert neben Hildesheim unverändert als eine seriöse Adresse.
Mittendrin ist nicht zuhause
Jochen Schimmangs ›Grenzen, Ränder, Niemandsländer‹ ist kein fiktionaler Text, sondern eine sehr persönliche Standortbeschreibung, eine unerwartete Fülle von Buch, die dem Leser entgegenstürzt, kaum dass er es aufschlägt, und der Autor ist so verwegen, uns diese biographischen Streifzüge, Anekdoten, Querverweise auf Literatur/Film/Musik so zu präsentieren, dass man schier verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte: Welch Tohuwabohu!
Seite um Seite aber entsteht Lesevergnügen, wachsendes Lesevergnügen, früh lernen wir Jochen Schimmangs persönliche Topographie kennen: »Geradewegs hinaus an den Rand, wo mein Ort ist!«, und was sofort eingeht: Er besteht darauf, 1948 in der britischen Besatzungszone geboren zu sein, er fühlt sich mittendrin nicht zuhause, er misstraut den Sommermärchen welcher Provenienz auch immer, er klettert nicht an der Spaßwand. Der Rand war immer schon ein wesentlicher Ort für Kultur, die sich ernst nimmt.
Niemandsländer
Schimmang sucht Randzustände auf, Niemandsländer – einmal auch als Gegenentwurf zu ›Gated Communities‹ definiert –, den Schlaf, also Bereiche, die sich »der totalen Kontrolle ebenso entziehen wie der exakten Messbarkeit«. Mühelos streift er festgefahrene Denkschablonen ab, etwa als er sich dagegen wehrt, den Tod so nett und eingängig als »Schlafes Bruder« zu bezeichnen. Das werde dem Schlaf nicht gerecht, Schlaf sei ein vielschichtiges Thema.
Oder als er die so felsenfest etablierte Interpretation der Werke Edward Hoppers kurzerhand vom Tisch wischt und dessen Figuren als »auf exterritorialem Gebiet« positionierte Figuren wahrnimmt, in einem »Niemandsland«, wo sie, kurzer Augenblick des Glücks, im Gemälde aufgehalten, »bei sich« sein dürfen. Er weist uns auf Julien Gracq hin, der auf »unangestrengte« Weise Landschaften beschreibt und »eine natürliche, ruhige, ihrer selbst gewisse Liebe zur physischen Welt« offenbart, er ist willkommener Gast bei Peter Handke.
Geschichte sortiert sich
Biographisch-essayistische Passagen gliedern uns die Zeitabläufe, wir werden reichhaltig mit Querverweisen auf Kultur und Musik versorgt und lesen einen durchaus entkrampften Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte. Während sich der Herbst 77 zuspitzte, fuhr Jochen Schimmang seinen rostzerfressenen Taunus 12 M zum Schrotthändler; die Hausschuhe, die er im Auto noch getragen hatte, blieben ihm auf dem Rückweg im Matsch stecken.
So geht’s zu im Leben und es zeigt, welche Probleme es mit sich bringt, Ordnung stiften zu wollen. »Das kurze Jahrzehnt«, beginnend mit der Festnahme dreier RAFler im Juni 72 bis zu den Ereignissen in Mogadischu im Oktober 77, sortierte sich in seinem Kopf Jahre später, während er aus eher nebensächlichem Anlass die Rolle des BKA-Präsidenten Horst Herold untersuchte. Nein, Ordnung schält sich heraus, und der Charme von ›Grenzen, Ränder, Niemandsländer‹ liegt darin, dass es diesen Prozess abbildet.
Siebziger, Achtziger, Neunziger
Nach den Siebzigern sei durch Margaret Thatcher der Klassenkampf von oben ausgerufen worden, und während eines Aufenthalts in Südengland verfolgte Schimmang vom Rande des Geschehens die Niederlage der streikenden Bergarbeiter, die einen historischen Wechsel markiere: »die Umwandlung des britischen Industriekapitalismus in einen Finanzkapitalismus«. Seitdem gelte Thatchers eherner Satz: »There is no such thing as society«, und ihr »There is no alternative« weise merkelwärts in die Zukunft.
Die achtziger Jahre seien durch einen friedensbewegten Diskurs über den Begriff Heimat geprägt worden, die Filme von Edgar Reitz hätten da eine erfreulich ernüchternde Facette gesetzt. »Heimat« sei ein zu belasteter Begriff, und Schimmang fragt, weshalb es nicht ausreiche, sich »zu Hause« zu fühlen. Die neunziger Jahre werden flüchtig erwähnt als Jahre der Gier.
Ach so. Genau
Er legt uns unauffällig einen historischen Leitfaden über die vergangenen Jahrzehnte. Im angebrochenen Jahrhundert sei es die Neue Mitte, die sich wie eine »Hölle« unaufhaltsam ausbreite. Er erinnert sich an seinen eigenen notorischen Hang zum Davonlaufen, und »ein Kind auf einem Dreirad« habe eben auch keine Chance gehabt »gegen einen Opa auf einem Fahrrad«; die Vorstellung, eingesperrt zu sein, versetze ihn noch heute in Panik.
Schimmang knüpft historisches Geschehen an biographische Fakten. Das politische Engagement von Schriftstellern wird vermisst? Ach so. Ein Engagement wie dieses soll es nun auch wieder nicht sein. Genau. Der Mainstream des neuen Jahrhunderts, die Neue Mitte, sie ist erstickend, man möchte dort so gern ›positiv‹ denken, die Michels und die Müllers geben den Ton vor, auch wenn nüchterne Überlegung verlangt ist, und ein Ende dieser Irrfahrten scheint nicht absehbar.
Vermessen und geheimnislos
Jochen Schimmangs Nischen, Verstecken, Randzuständen folgen wir reichhaltig über ein Leben verteilt – er zählt sogar die Couch des Psychiaters dazu, gut, sei’s drum –, sie sind verfügbar, sie sind ein Angebot. Die »globalisierte Welt« erscheint demgegenüber »endgültig erkundet, vermessen, bekannt und geheimnislos«.
›Grenzen, Ränder, Niemandsländer‹ ist ein angenehm zu lesendes Werk, dem viel Aufmerksamkeit zu gönnen ist und dessen Lektüre Sie möglicherweise zu einem der Romane Jochen Schimmangs führt. Oder auch zu einem der von ihm übersetzten Werke, etwa ›Moo Pak‹ (1994/2010) von Gabriel Josipovici, das an den Duktus von Thomas Bernhard in ›Alte Meister‹ (1985) erinnert.
Titelangaben
Jochen Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer. 51 Geländegänge
Hamburg: Edition Nautilus 2014
160 Seiten. 19,90 Euro
Lesung
Mittwoch, 10. September 2014, 20 Uhr
Lesung und Gespräch mit Jochen Schimmang
Musik- und Literaturhaus Wilhelm13
Leo-Trepp-Straße 13
26121 Oldenburg